Vollkonferenz am 01. Mai 2009 in Würzburg

Danksagung bei der Verleihung des Karl-Barth-Preises der Union Evangelischer Kirchen

Dr. Jürgen Schmude

01. Mai 2009

Dr. Jürgen Schmude

Es ist für mich eine besondere Freude und Ehre, von Manfred Stolpe gewürdigt zu werden. Ihn wüsste ich verdienter Maßen zu würdigen.  Bei ihm habe ich viel Gutes erlebt, ihn bewundern und verehren gelernt. Und das ist ganz selten, dass jemand sich wie er nur aus Freude am Helfen für Menschen in schwierigster Lage einsetzt, dabei Mühe, Ärger und Risiken auf sich nimmt und dann immer wieder Wege für sie findet, ja erfindet und entwickelt, um Notfälle zu beheben. Fasziniert habe ich dabei wahrgenommen, dass er die großen Entscheidungs- und Handlungslinien genau im Blick hatte, sich zugleich aber geduldig um Kleinigkeiten kümmerte, die für die Betroffenen ebenfalls wichtig waren. Von Stolpe gelobt zu werden, der doch selbst großes Lob verdient, das ist eine zusätzliche Auszeichnung für mich.

Der Jury danke ich für Ihre Entscheidung, der ich mich gern füge. Von Gustav Heinemann, dem ich viele wichtige Hilfen und Anregungen verdanke, habe ich eine ausgeprägte Zurückhaltung gegenüber Ehrungen übernommen und beibehalten. Vor seiner Zeit als Bundespräsident entwickelte er einmal die Idee, jeder solle das Bundesverdienstkreuz erhalten, der es wünsche. Der Betreffende müsse nur die Begründung seiner Preiswürdigkeit selbst schreiben, und das werde dann veröffentlicht.

Obwohl Heinemann danach sehr ernsthaft mit den Ordensverleihungen umging, ist mir sein Modell im Gedächtnis geblieben. Und so habe ich mich bei der Nachricht über die heutige Ehrung sogleich gefragt, wie ich selbst wohl meine Würdigkeit für diesen herausragenden theologischen Wissenschaftlern zugedachten Preis begründen könnte. Nichts könnte ich vorbringen – und musste es auch nicht; die Jury hatte mir das abgenommen, und ich brauchte es nur noch anzunehmen.

Dieser Preis, mit dem Hinweis auf die Barmer Theologische Erklärung von 1934 verliehen, hat mich an meine Mitarbeit im theologischen Ausschuss der Evangelischen Kirchen der Union erinnert, der 1986 sein Votum zur Fünften, der „politischen“ These dieser Barmer Erklärung vorgelegt hat. Auch damals haben mir meine Eignung und Würdigkeit, in diesem Ausschuss den Vorsitz zu übernehmen, nicht eingeleuchtet.

Meine anfängliche Ablehnung wurde aber nicht akzeptiert. Damit werde ich beim Rat der EKU kein Verständnis finden, der Rat werde irritiert sein, erklärte mir der zuständige Oberkirchenrat Alfred Burgsmüller mit sehr besorgter Miene. Sein Mienenspiel hat mich beeindruckt und umgestimmt. Denn dass es da einen Rat gab und wer dazu gehörte, wusste ich noch gar nicht. So kam der Jurist mit politischer Erfahrung zum Vorsitz eines mit Theologen besetzten Ausschusses und fühlte sich dort gelegentlich so unsicher, wie die schwerfällige Schildkröte im Vorsitz über Flamingos. Aber es war auch lehrreich und reizvoll, mit namhaften, ja herausragenden Theologen gemeinsam zu beraten. Ich nenne von ihnen nur Heinz Eduard Tödt und Eberhard Jüngel.

Es war, aus heutiger Sicht, auf meinem Weg in die intensivere kirchliche Arbeit eine Station, die ich nicht missen möchte. Anderes kam hinzu, und so kann ich auf eine Reihe besonderer Funktionen und Aufgaben nicht nur in der Politik, sondern auch in der Kirche zurückblicken. . Ein besonders zu würdigender Mensch bin ich dabei nach meiner Meinung nicht geworden, nicht mehr als andere auch. Solche Selbstbetrachtung soll helfen, das mit der Auszeichnung verfolgte Ziel zu erreichen. Es kann ja nicht damit sein Bewenden haben, dass ein Mensch gewürdigt wird und zufrieden nach Hause geht.

Worum es mir geht, will ich am Beispiel der Freunde im heimischen SPD-Ortsverein erläutern, denen ich früher manchmal wegen unvernünftiger Eskapaden Vorhaltungen gemacht habe. „Du hast ja ganz recht, aber du bist eben auch ein weiser Mann,“ bekam ich zu hören. Einsicht oder gar ein Kompliment? Nein, vielmehr schlichte Selbstverteidigung gegen die Zumutung, den Schlendrian der Irrationalität aufzugeben. Lass ihn reden, dachten sich die Freunde, wir sind normale Menschen – und machen weiter.

Der heutige Preis geht an einen sehr normalen Menschen. Er hat besondere Chancen nutzen können.  Andere haben sie, so oder anders, oft auch. Nutzen sie sie oder halten sie sich fern und sagen z. B.: „Der kann das, ich könnte das nicht.“? „Wieso könntest du das nicht,“ frage ich gelegentlich zurück. Und dann höre ich, dass man sich mit all den lästigen Menschen, mit denen man in Politik und anderer gesellschaftlicher Verantwortung Umgang hat, nicht abgeben will; das könne man nicht aushalten.

Offenbar ist vor allem für die Politik die Schiedsrichterrolle bei uns besonders populär: Viel und schnell urteilen, sich aber bloß nicht in das Spiel einmischen. Ist es denn nicht unser Spiel?

Vom Grundgesetz als großem Angebot hat Gustav Heinemann gesprochen, und die Demokratiedenkschrift der EKD von 1985 steht in diesem Sinne  unter dem Titel: „Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe.“ Ziel der heutigen Preisverleihung sollte es sein, auf die Annahme dieses Angebots und dieser Aufgabe durch möglichst viele Menschen hinzuwirken. Zur „immer wieder gebotenen Entfaltung der politischen Bedeutung des Evangeliums“ wollen wir ermutigen, ja sie fordern.

Das ist wahrlich nötig, denn das demokratische Engagement, sei es in der politischen Arbeit, sei es bei Wahlen, ist rückläufig. Besonders der Wahlverzicht ist unverständlich. Er schädigt die Demokratie und belastet das Zusammenleben.

Das müsse man doch verstehen, hören wir. Und dann werden Gründe genannt. Sie sind alle nicht stichhaltig. Also ist nichts zu verstehen im Sinne einer Billigung. Allenfalls zu begreifen gilt es, dass hier einem Missstand abgeholfen werden muss.

Alle Bürgerinnen und Bürger sind da gefordert und die Christen eher noch mehr, während sie sich tatsächlich oft besonders schwer tun. Die Kirche hat – und sieht – hier ihre Pflicht: sich einzumischen und lästig zu fallen, indem sie die Christen zum Tätigwerden drängt.

Der Karl-Barth-Preis, für die Würdigung theologisch-wissenschaftlicher Arbeit gedacht, wird in diesem Jahr – erneut – einem Nichttheologen zuerkannt. Einem Politiker, bei dem neben 25 Jahren Parlamentstätigkeit inzwischen mehr als 25 Jahre ehrenamtlicher Kirchenarbeit zusammengekommen sind. So zu leben und zu arbeiten, ist nicht nur möglich, es hat auch seine Folgerichtigkeit. Viele Christen in unserer Bundesrepublik haben so gelebt und gearbeitet. Namhafte Spitzenpolitiker habe ich dabei als vorbildlich erlebt.

Gustav Heinemann, den ich in seinen letzten zehn Lebensjahren näher kennen lernen durfte, hat mich stark geprägt. Johannes Rau, der Preisträger von 2004, hat mir ganz früh über politische Stolpersteine hinweggeholfen, er hat meinen Weg über Jahrzehnte hilfreich begleitet. Richard von Weizsäcker hat mich, auch in manchen Begegnungen, beeindruckt und ermutigt.

Als eindeutige Christen haben sie maßgebend politische Verantwortung wahrgenommen. Sie haben es nicht als Diener politischer Gruppen oder Mächte getan, sondern als freie Menschen, die zugleich kirchliche Aufgaben versehen. Das ist für unsere Demokratie eine wertvolle Errungenschaft. Den Weg dahin hat nicht zuletzt Karl Barth geöffnet.

Seine überragende Bedeutung, zumal für die deutsche Theologie ist mir schon in der Jugend beim Umgang mit Pfarrern und Theologiestudenten klar worden. Heiß begehrt, aber teuer und jedenfalls wuchtig waren die Bände seiner kirchlichen Dogmatik, denen ich mich stets respektvoll näherte. Zum Lesen kam ich nicht, es blieb beim Blättern.

Leicht lesbar, kurz und prägnant war die schon erwähnte, weitgehend von Karl Barth formulierte Barmer Theologische Erklärung. Als theologischer Text gefasst, entfaltete sie bald eine bis heute wirksame politische Bedeutung. Gewiss weist dieses Bekenntnis von 1934, zumal in der Fünften These aus heutiger Sicht Defizite auf. Einzelne Begriffe, etwa die „Verantwortung der Regierenden und Regierten“, laden andererseits zur weitergehenden Interpretation ein, als es dem Verständnis der Verfasser vor 75 Jahren entsprochen hat. Solche zunächst gar nicht bedachte Aussagekraft findet man in klugen Worten häufig.

Jedenfalls haben Karl Barth und die Synodalen von 1934 Einsichten vermittelt, die in weiter entwickelter Form in markanten kirchlichen Worten und Denkschriften zu den politischen Aufgaben der Kirche und zur Verantwortung der Christen in der Politik ihren Ausdruck gefunden haben. Bedacht und in eindringliche Empfehlungen gefasst ist das alles. In der Praxis freilich erweisen sich die Bremskräfte zu oft als stärker, in der Gesellschaft allgemein und bei den Christen nicht minder.

Ja, es winken nicht die reine Freude, nicht die befriedigende Ausübung der Macht und der Genuss allgemeiner Ehrerbietung in der politischen Arbeit. Mühevolle Auseinandersetzungen mit kaum überschaubar vielen Menschen und ihren unterschiedlichen Interessen sind der Alltag. Manchmal gibt es erfreuliche Erfolge, häufig aber Erschöpfung, Verdruss, Stress und auch Niederlagen.

Muss ich mir das antun, wird immer wieder gefragt. Wenn du es irgend kannst, solltest du es tun, lautet die Antwort. Das auf sich zu nehmen, ist eine heute besonders nötig gebrauchte Form von Nächstenliebe. Dem Nächsten kommt es zugute, wenn wir bei der Sicherung von Recht und Frieden durch die Politik helfen. Und damit nützt es schließlich auch uns selbst.

Mancher meint nun, auf das schmutzige Geschäft der herzlich gering geschätzten Politiker wolle er sich nicht einlassen, zu denen wolle er nicht gehören. Wie geht man dabei mit den Politikern um und auf welcher Grundlage eigentlich? Sind sie aus Schurkenstaaten zu uns importiert oder von vornherein dem Abschaum der Menschheit entnommen? Dann wären ja Christenmenschen besonders gefordert, selbst anzutreten und dem gefährlichen Personalmangel durch das eigene, bessere Angebot abzuhelfen. Oder soll vielleicht auch das nicht helfen, weil mit der Wahl in ein Mandat eine Verwandlung stattfindet? Anständige, geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger werden in der Hoffnung auf reichliche  Zustimmung als Kandidaten aufgestellt, - doch schade um sie; denn mit der Wahl ist ihr Abstieg besiegelt.

Beide große Kirchen haben dieser ebenso absurden wie häufigen Bewertung mehrfach widersprochen. Sie haben vor der Tätigkeit in der Politik nicht gewarnt, sondern zu ihr aufgerufen. Konkrete Lösungsvorschläge haben sie ausgearbeitet, um den Politikern und der Gesellschaft zu helfen.

Dabei übrigens erweist sich die Mitarbeit von politisch Erfahrenen an der Ausarbeitung solcher Erklärungen als unentbehrlich. Denn die Kirche ist es den angesprochenen Politikern schuldig, die Realisierungsmöglichkeiten und Hindernisse in den Blick zu nehmen. Wunder nämlich sind auch vom besten Staat nicht zu erwarten. „Nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens“ soll er seine Aufgaben erfüllen, heißt es in der Barmer Theologischen Erklärung.

Die Lösung aller Probleme, die Erlösung von allen Unzulänglichkeiten erwarten wir im Glauben an die Wiederkunft Jesu Christi von ihm. Was wir bis dahin selbst verbessern können, mit menschlicher Einsicht und Vermögen, das ist nicht alles, aber viel.

Unerfüllbare Wunschkataloge sind dabei nicht hilfreich. Sie bewirken nichts, allenfalls Ratlosigkeit und Enttäuschungen. Und dann lakonisch zu meinen, die Politiker müssten eben manches machen, was man als Christ weder wollen noch verantworten könne, ist schon wieder ein Schritt zur Abwertung der politisch arbeitenden Menschen. Das läuft auf eine Teilung der politischen und gesellschaftlichen Welt hinaus.

Die sieht dann so aus: Auf der unerfreulichen Seite wirken die Macher und verfehlen mit ihrem vielleicht notwendigem, zugleich aber anstößigen Handeln die wahren Ziele. Diese kennt man auf der anderen, auf der Seite der Guten, ganz genau, beschreibt und empfiehlt sie, aber leider: Es wird nichts daraus. Die Verhältnisse und die Politiker, sie sind nicht so. Fein also, dass man damit nichts zu tun hat. Moralische Überlegenheit und schlichte Bequemlichkeit verbinden sich so bestens. Und wieder ist ein Grund gefunden, sich mit der eigenen Person auf die Politik und auf viele wichtige gesellschaftliche Aufgaben gar nicht erst einzulassen.

Aber so dürfen sich Christen um ihrer Mitmenschen und um ihrer selbst willen nicht verhalten. Die Demokratie leidet darunter, sie kann in Gefahr geraten. Trotz ihrer Stabilität in den sechs Jahrzehnten der Geltung des Grundgesetzes sind weder ihr Erfolg noch ihr Bestand von selbst garantiert. Dafür können nur aktive Demokraten sorgen, an denen es der Weimarer Republik leider gefehlt hat. Und an aktiven demokratischen Christen hat es ihr erst recht gefehlt.

Trotz der bekannten grässlichen Folgen des Scheiterns der Demokratie im Deutschland der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts und trotz der eindeutig negativen Erfahrungen mit der undemokratischen Machtausübung in der DDR trifft man heute viel zu oft auf das Sinnieren darüber, ob die Demokratie wohl wirklich das Richtige ist. Man müsste doch eigentlich, meinen sogar kluge Diskutanten, - und dann kommen Baupläne für politische Luftschlösser. Mit dem demokratischen Staat des Grundgesetzes, der in den Grundsätzen seiner Auftragserfüllung eine Nähe zum christlichen Menschenbild aufweist (EKD-Demokratiedenkschrift 1985), haben sie nichts gemein.

Richtig bleibt: Christ kann man auch ohne Demokratie sein und bleiben. Wir haben das in Deutschland wie andernorts erlebt. Aber Karl Barth hat Recht mit der Feststellung:
„Dass man in einer Demokratie zur Hölle fahren und unter einer Pöbelherrschaft oder Diktatur selig werden kann, das ist wahr. Es ist aber nicht wahr, dass man als Christ ebenso ernstlich die Pöbelherrschaft oder die Diktatur bejahen, wollen und erstreben kann wie die Demokratie.“

Heute würde Barth wohl hinzufügen, dass man als Christ die demokratische Regierungsform auch nicht aus Bequemlichkeit und Verantwortungsscheu mit allerlei Ausreden aufs Spiel setzen darf.

Geben wir uns alle Mühe, solche Einsichten zu vermitteln. Unter Christen und allen Bürgern unseres Staates.
In diesem Sinne wünsche ich der heutigen Verleihung des Karl-Barth-Preises eine weiter reichende Wirkung.



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