Predigt im Eröffnungsgottesdienst

Gerrit Noltensmeier

„Alle morgen weckt Gott, der Herr, mir das Ohr, das ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück.“
 (Jes 50,4-5, Tageslosung am 29. April 2005).

Er weckt mir das Ohr. Der treue Gott. Alle Morgen.
Gelingt es uns, in dieser Stunde, in der der Tag die Höhe schon überschritten hat, jene Zeit des Morgens zu vergegenwärtigen, in der alles Anbruch ist und vielversprechender Beginn, in der mancher Zauber des Anfangs zu spüren ist? Gelingt es uns, angesichts der Agenda, die uns bald schon in die bekannte, geplante, gewollte und durchaus notwendige Geschäftigkeit verstricken wird zum Wohl der einen Kirche Jesu Christ, gewiss, und in Verpflichtung den Kirchen gegenüber, aus denen wir kommen, und verbunden in dem Willen in der evangelischen Kirche zu neuer, ver-dichteter, verpflichtender Gemeinschaft zu finden, und in dieser Verpflichtung durchaus vereint und uniert, gelingt es da, jenen Morgen zu vergegenwärtigen, da alles voller Erwartung ist, die Gott bereitet hat? Die Augen gleichsam geschlossen, der Mensch ganz Ohr, befreit, zu hören mit empfänglichem Herzen und wachem Verstand.
Der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Also rede, Herr, deine Jünger hören.

Wie ist es an solch einem Morgen?
Gewiss, es kann bestürzend, verstörend, verunsichernd sein, wenn des Morgens das Ohr für Gottes Wahrheit geöffnet wird. Das kann uns schmerzlich herausreißen aus trügerischer Sicher-heit, aus dem Gewohnten und allzu Vertrauten. Es ist ja sein Wort auch dem Hammer gleich, der Felsen zerschmeißt und dem verzehrenden Feuer. Und es mag ja auch sein, dass diese Wirklich-keit unter uns hier und da verschwiegen wird, weil man es wohlig bei uns mag und weil wir gern und betulich versichern, dass Gott uns ja so annimmt wie wir sind. Seine Kraft, die alles zu ver-ändern vermag, bleibt dann erstaunlich blass. Doch damals, als es Tag wurde für den Propheten und seine Gefährten, wie war es da? Und: Ist es lange her? War dieser Morgen hell und licht, als fiele ein Glanz der Ewigkeit auf ihn? Voll Freiheit, im Licht einer großen Verheißung. Und alles ist vielversprechender Anbruch, weil die Sorgen, die bei Nacht die Seele verdüstert haben, verfliegen, weil die Gespenster, die bei Nacht durch Wachen und Träumen geistern, verscheucht sind, die Spießgesellen des Dunkels, die mit den Ängsten spielen und ihre fragwürdigen Geschäfte machen, die Profiteure des Halbdunkels, weil sie alle ihr Spiel verloren haben in der Klarheit des neuen Beginns?! Und an diesem Morgen hören sie, wie Jünger hören, sind berufen aufzubrechen, zu vernehmen, um schließlich selber Boten zu sein. Sie hören von Klarheit und Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. In allem ist der Grundton der Treue Gottes. Und sie sind ganz Ohr, hingerissen und hinweggenommen in ein Haus von Licht.

So aber ist das Wort Gottes Speise zur Stärkung und Trost für resignierte oder aufgescheuchte Seelen. Der Prophet ist ja schon bestellt mit den Müden zu reden zur rechten Zeit, und sie sind ja so bedürftig die Müden zu aller Zeit, und es soll ja auch nicht alles infiziert werden mit Depressi-vität und Niedergeschlagenheit, es soll ja nicht das Grau das Licht des Morgens überschatten. Be-stimmt ist er, die Müden aufzurichten. Und er selbst? Bald schon werden sie ihn zerren vor das Forum der Anklage, weil sie die Botschaft der Hoffnung unerträglich finden in den Wüsten der Zerstörung von Jerusalem oder da, wo sie heimwehkrank oder verbittert und enttäuscht im Exil leben, in der Fremde. Sie werden ihn stoßen und verstoßen. Groß werden die Schmerzen des Gottesknechtes sein. Gott weckt das Ohr, und nun gibt es kein zurück. Da ist Halt, da ist Trost, damit die Müden nicht entmutigt hocken bleiben, damit der Prophet selbst Kraft behalte, um nicht zu fliehen wie das geschlagene Heer nach verlorener Schlacht, um nicht den Schmerzen ausgeliefert zu sein ganz und gar.

War es so an diesem Morgen? War so der Morgen damals? Und: Ist es lange her?
Mit drei Hinweisen möchte ich andeuten, was uns aufgehen könnte im Licht dieses Morgens:

1. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Das Ohr soll ja vernehmen, was extra nos, außerhalb unseres Denkens und Herzens erklingt. Den sündigen Menschen gelingt es offenbar, nicht nur die Augen sondern auch die Ohren zu schließen. Der gefallenen Welt gelingt es offenbar, mit ihrem Dröhnen und ihren Einflüsterungen, mit ununterbrochenem Geplapper die Ohren zu verstopfen. Da braucht es die Schöpferkraft Gottes, sein Tun, das alles neu macht, um das Ohr zu öffnen. So ist das Leben eigentümlich extrovertiert. Doch solch extrovertierte Leute sind nicht unbedingt die frohgestimmten Kommunikatoren, eloquent, schulterklopfend, kontakt-freudig, die in jedem Assesmentcenter die ersten Stiche machen. Befreit aber sind sie aus der Einsamkeit der Totenstillen, aus stolzer Genügsamkeit. „Apertura intransigente“ sagen die Waldenser. Hartnäckiges, nachhaltiges Geöffnetsein. Ihr könnt, liebe Protestanten, das Wort nicht hoch genug schätzen. Und wir sollten nur ja nicht einstimmen in das lose Gerede derer, Theologinnen und Theologen sind gern mit von der Partie, die da sagen „... ach, nur Worte ...“. Das ist, so sagen sie, nicht wirklich ganzheitlich, das ist protestantische Nüchternheit, ver-kopft und allzu dürftig. Schließlich geht es doch auch um den Bauch, sagen sie, und um die Augen. Als hätten sie nie erfahren, wie es ist, wenn dem vor Angst zitternden Kind gesagt wird: „Fürchte dich nicht“, wenn die Liebenden einander sagen: „Ich habe dich lieb“, wenn der Sterbende hört: „Der Herr ist dein Hirte“. Nüchtern? Verkopft? Das Ohr geöffnet. Besser, so sagen sie, wir hören in uns hinein. Und überhaupt müsse, so sagen sie, unsere Glaub-würdigkeit dem Wort erst auf die Beine helfen und Überzeugungskraft verleihen. Sein Testat braucht es in unserem Leben, in unserem Glaubwürdigsein, in unserem Authentischsein, so sagen sie. In Übereinstimmung mit uns selbst gelte es zu leben. Das alles ist ja wahr, zumin-dest halb wahr, doch: Verachtet nicht das Wort, das euch von draußen, von ihm, dem leben-digen Gott erreicht. Und wenn es Abend wird nach solch einem Morgen, dann, ja dann hört in euch hinein und vergesst nicht, die Gefährten zu fragen: Brannte nicht unser Herz, als er mit uns redete?!

Gelegentlich denke ich gerne an jenen Abend in der großen Kirche von Debrecen, weit im Osten Ungarns zurück. Die Versammlung des Reformierten Weltbundes, es war schon die vorletzte, kam zu ihrem Ende. Wir hörten, sangen die Psalmen, feierten das Mahl des Herrn. Und nichts war ärmlich und karg in der großen, schmucklosen Kirche, die eine eigentümliche Sammlung und Konzentration schenkte. Und nachdem wir gehört und gesungen hatten, ging es mit Fackeln und Liedern durch die nächtliche Stadt hin zum Platz der Reformatoren, um die große Proklamation zu verlesen: „We are not our own“. Wir gehören nicht uns selbst. Das erfahren wir, wenn wir uns ans Hören verlieren. Und wenn Sie in dieser englischen Zeile die tröstende Antwort des Heidelberger Katechismus auf die große Frage nach dem letzten, einzigen Trost hören, dann haben Sie recht gehört.
Jesu Christi eigen.
Gott öffnet das Ohr.
Der Heiland der Welt spricht.
Und das Herz brennt.
Und wir kommen über uns hinaus.
Und die Welt wird verwandelt.

2. Karfreitag war es, in diesem Jahr. Soll man vor dem Karfreitagsgottesdienst schon die Zeitung lesen? „Spirituell erloschen“, so war der Leitartikel überschrieben. Und weil auch idea aus dem Text zitierte, war es wohl nicht nur in der Lippischen Landes-Zeitung oder in der Neuen Westfälischen zu lesen. Ein Politologe schrieb es den Kirchen hierzulande ins Stammbuch. Sie seien nicht Botschafter der Transzendenz, die Kirchen in Deutschland, würden nicht sonderlich selbstbewusst die Wunder der Erlösung verkünden. Sie seien zu Dienstleistungsagenturen und Servicestationen verkommen. Es fehlen ihnen, so der Wissenschaftlicher aus Göttingen, die mitreißenden Kommunikatoren und die flammenden Botschaften. Etwas schnippisch möchte man einen Moment zurückfragen, ob nicht auch Politologen und Soziologen vor etlichen Jahren prägender und mit flammenderen Botschaften als heute zu hören waren. Aber nein, wir hören es ja nicht ohne Selbstkritik. Doch wenn es so ist, dann sind wir neu auf unsere eigentliche Bestimmung verwiesen, auf das zu achten und das zu hören, was ganz und gar jenseits unserer Befindlichkeit und Möglichkeit ist. Unsere Union hier ist ja ein Bündnis, das über alle kirchenpolitischen Absichten, über die Winkelzüge der gewieften Taktiker und die weitsichtigen Perspektiven der großen protestantischen Strategen, das über alle Strukturüberlegungen und Leitbildentwicklungen, so nötig das alles ist, hinauskommen will. Er hat uns das Ohr geöffnet, wir weichen nicht zurück. Wir lieben sie ja, die großen Geschichten von der Treue Gottes, die mit langem Atem erzählt und gehört sein wollen, die nur geistlichen Schnäppchenjägern unzugänglich erscheinen, wir lieben ja die biblischen Seufzer, den Jubel und die Stoßgebete, Worte, die Geschichten und Weisungen.

Und angesichts der großen Inszenierungen einer Weltkirche und der spektakulären Lust der Medien an solchem Geschehen in Rom, angesichts der dramatischen Überhöhung monarchischer Ämter und der regressiven Sehnsucht auch aufgeklärter Geister, vor einem Heiligen Vater in die Knie zu gehen, sagen wir: Der Herr hat uns das Ohr geöffnet. So bleiben wir auf dem Plan. Gesammelt, in einer heiligen Obsession beschlagnahmt. Und dann frei und mündig, nicht Sklaven, vielfältig beschenkt und begabt. Ich habe mir noch einmal herausgesucht, was Fulbert Steffensky in der anderen Vollversammlung vor gut 1 ½ Jahren vor der EKD-Synode in Leipzig gesagt hat: „Es könnte sich ein Menschentyp herausbilden, der nicht mehr auf Argumente hören kann und der nur noch durch Bilder und Inszenierungen zu gewinnen und zu überzeugen ist. Wir haben in den letzten Jahren gesagt, dass wir von der Bildhaftigkeit, der inszenatorischen Fähigkeit des Katholizismus lernen müssten. Der Mund wurde vielen Protestanten wässrig, wenn sie an deren Weihrauch, Glöckchengeklingel, Weihwasser und Messgewänder dachten. Ich vermute, wir brauchen heute noch mehr das Charisma der Karg-heit und das Misstrauen gegen die Augenschönheiten, die uns die reformierte Tradition lehrt.“ Das aber sagen wir nicht exklusiv, wollen nicht in dem Lagerdenken von gestern die konfessionellen Claims abstecken. Aber vom Wort kommen wir nicht los. Worte, die von Erinnerungen schwer sind und doch nicht von gestern, leuchtend und voll Verheißung, den Saturierten und Verzagten helfen sie auf die Sprünge.

3. Man sagt1, es seien die Nachfahren der Tempelsänger in Jerusalem gewesen, die wir bei dem zweiten Jesaja vernehmen. Und ihre Lieder drohten wohl zu verstummen, der Tempel war zerstört, die Liturgien waren verklungen, die Harfen hingen in den Weiden. Aber ihre Gesänge, die einst in, so schien es doch, unangefochtener Sicherheit eigentümlich hohl geklungen haben mögen, hatten nun alle Selbstverständlichkeit verloren, hatten neue Tiefe bekommen und Obertöne, die nie zuvor gehört waren in ihren Kreisen. Man sagt, es seien die Heilspropheten von einst und ihre Schüler gewesen, die wir hier vernehmen, und der namen-lose Prophet sei, vielleicht, ein Exponent dieser Gruppe gewesen, der aller frohgemute Optimismus, der alle Heilssicherheit vergangen war, hineingerissen in den Strudel einer unübersichtlichen Zeit. Aber das Angewiesensein auf das Wort Gottes haben sie nun überwältigend erfahren, und es war nicht vergeblich, in aller Empfänglichkeit auf diese Wirklichkeit zu setzen. Und sie entfalteten nun die Treue Gottes in weiten, universalen Horizonten, und sie beschrieben ganz neu den Anfang, in dem die Schöpferkraft Gottes alles in allem ist. So geht es zu, wenn Gott das Ohr öffnet.

Ist dies ein Morgengebet für jede Tageszeit, ist dies ein Gebet, das nicht nur im Umfeld des kommenden Sonntags Rogate seine Zeit und seinen Platz hat:
Rede, Herr,
deine Jünger hören.
Und:
Komm, Herr Jesu, sei du unser Gast
und segne, was du uns bescheret hast.
Amen.

1)  vgl. Rainer Albertz, „Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr.“, Stuttgart 2001, S. 285f. 



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