Der theologische Ertrag und die bleibende Bedeutung der Lehrgespräche im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR

Vortrag von Prof. Dr. Michael Beintker

Liebe Schwestern und Brüder,

für die heutige Abendsitzung waren eigentlich zwei Vorträge vorgesehen. Ich muß das des-wegen sagen, weil an sich mein Part darin bestanden hat, nicht so sehr über die bleibende Bedeutung der Lehrgespräche nachzudenken, als vielmehr – wie das einem armen systematischen Theologen geziemt – den theologischen Ertrag dieser Lehrgespräche zu reflektieren. Das ist noch etwas anderes, als die bleibende Bedeutung darzustellen. Nun haben Sie das Erlebnis, daß aus dieser eher theologiegeschichtlichen Retrospektive doch eine Prospektive geworden ist, weil ein nach kurzfristiger Absage des anderen Referenten heute nachmittag entstandener zusätzlicher sechster Abschnitt dieses Vortrags dann ausdrücklich auch die bleibende Bedeutung ins Blickfeld rückt. Sie werden bei den Darlegungen merken, daß ich auch bei dem Rückblick natürlich immer als ein Kind der Gegenwart lese, und insofern fließt implizit die Bedeutung oder vielleicht auch die Relativität – wir sollen ja keine Nostalgiegefühle pflegen – also auch die Relativität dieser Gespräche mit in den Gedankengang ein.


1. Die Lehrgespräche im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR
Die theologischen Gespräche oder – genauer und ihrem Selbstverständnis gemäß – Lehrge-spräche in der DDR, deren theologischer Ertrag hier zu sichten sein wird, sind in zwei Phasen verlaufen. Die erste Phase fällt in die Jahre 1969 bis 1974 und hängt unmittelbar mit der Gründung des Kirchenbundes zusammen. Am 6. Juli 1969 hatte die Generalsynode der VELK in der DDR der Evangelischen Kirche der Union im Bereich der DDR Lehrgespräche vorge-schlagen. Leitendes Motiv war das Bemühen um die Herstellung und Intensivierung von Kir-chengemeinschaft der sich zum Kirchenbund zusammenschließenden Landeskirchen. Die EKU ging auf diesen Vorschlag ein und stimmte der Bildung einer „Kommission für das Lehrgespräch“ zu. Die Kommission wurde mit je 7 Mitgliedern paritätisch besetzt und nahm unter der Leitung von Gottfried Voigt (VELK) und Horst Lahr (EKU) im Dezember 1969 in Leipzig ihre Arbeit auf. Die Kommission sollte eine theologische Erklärung („Basiserklä-rung“) erarbeiten, in der die lehrmäßigen Grundlagen der Zeugnis- und Dienstgemeinschaft der dem Kirchenbund angehörenden Landeskirchen dargelegt wurden. Zu dieser Erklärung kam es indessen nicht, wohl aber zu fünf „Werkstattberichten“, in denen es schwerpunktmä-ßig um die Bearbeitung der ebenfalls von der Generalsynode vorgeschlagenen Themenfrage ging: „Wie verkündigen wir heute die Rechtfertigung?“ Außerdem begleitete die Kommission für das Lehrgespräch die Verhandlungen, die im März 1973 zur Verabschiedung der Leuen-berger Konkordie führten, und empfahl nach einer Prüfung des Konkordientextes den acht evangelischen Landeskirchen in der DDR die Zustimmung zur Konkordie, die sie dann am 19. September 1973 gemeinsam erklärten.
 Gab es also schon in der ersten Phase der Lehrgespräche Querverbindungen zu den Verhandlungen um die Leuenberger Konkordie, so traten diese Verbindungen in der zweiten Phase der Lehrgespräche dominant hervor. Diese zweite Phase fällt in die Jahre von 1976 bis 1978. Das zweite theologische Gespräch zwischen VELK und EKU (Bereich DDR) sollte nicht mehr der Begründung der Kirchengemeinschaft – sie war ja mit dem Beitritt zur Kon-kordie erfolgt –, sondern ihrer Intensivierung dienen. Vornehmlich wollte man solche theolo-gischen Lehrunterschiede bearbeiten, die wegen ihrer jeweiligen konfessionellen Profile und mutmaßlichen Gegensätzlichkeiten der gewünschten Intensivierung am ehesten im Wege ste-hen konnten. Die Leuenberger Konkordie (Ziffer 39) hatte dazu eine Reihe von Lehrge-sprächsthemen benannt, unter ihnen die Themenfelder „Amt und Ordination“ und „Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi“. Weitere Gesprächsoptionen, die bei den Vorüberlegungen im Kirchenbund eine Rolle spielten, waren das Verhältnis von Gesetz und Evangelium, der theologische Ansatz der Ethik, die Lehre von Gott und die Lehre vom Gebet.
 Die zweite Lehrgesprächskommission hat dann über Amt, Ämter, Dienste und Ordina-tion und das Verhältnis von Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi gearbeitet. Dazu wurden zwei Arbeitsgruppen gebildet, die wiederum jeweils paritätisch be-setzt wurden. Die Zwei-Reiche-Gruppe unter dem Vorsitz von Gottfried Forck, der auch ich angehört habe, war mit insgesamt 16 Mitgliedern etwas größer als die aus 12 Mitgliedern be-stehende Ämter-Gruppe unter der Leitung von Heinrich Stühmeyer und dann krankheitsbe-dingt wechselndem Vorsitz. Die Ergebnisse der trotz mancher Abstimmungen im Formalen doch getrennt arbeitenden und getrennt votierenden Arbeitsgruppen beeinflußten die Lehrge-sprächsarbeit auf europäischer Ebene und fanden vielerlei Resonanz. Im Vergleich zur Arbeit der ersten Lehrgesprächskommission war die öffentliche Wirkung ausgeprägter, zudem sich die Voten der zweiten Lehrgesprächskommission einem höheren Verbindlichkeitsgrad ver-pflichtet sahen als die bewußt auf Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit angelegten Werk-stattberichte der ersten Lehrgesprächskommission.


2. Wie verkündigen wir heute die Rechtfertigung?
Diese Frage bestimmte die Arbeit der ersten Lehrgesprächskommission. Sie ging davon aus, wie aus einer Erklärung im September 1970 verlautet, „daß die Rechtfertigung durch Christus die Mitte der Verkündigung ist“. Und: „Sie ist darum bemüht, das Verständnis der Rechtferti-gung zu formulieren und dem Menschen von heute verstehbar zu machen“ . Im Verlaufe der Sechziger Jahre war die Frage nach der Aktualität der Rechtfertigungsbotschaft eingehend im Rahmen der Studienarbeit des Lutherischen Weltbundes diskutiert worden. Nun sollte dieses Thema in bewußter Zuspitzung auf die besondere Situation der Kirchen in der DDR und ihr gesellschaftliches Umfeld behandelt werden. Die Ausrichtung auf die spezifischen Verhält-nisse in der DDR gehörte zur Programmatik der gesamten Lehrgesprächsarbeit, insofern be-saß sie immer auch den Charakter einer theologischen Situationsklärung. Da die Beschrei-bung des gemeinsamen Verständnisses des Evangeliums bzw. der Rechtfertigungsbotschaft als der Botschaft von der freien Gnade Gottes auch die tragende Basis der Leuenberger Kon-kordie war, gab es eine sichtliche Parallele zum Leuenberger Weg zur Kirchengemeinschaft der reformatorischen Kirchen auf europäischer Ebene. Eben dieses gemeinsame Verständnis des Evangeliums war nun von den konfessionsverschiedenen Kirchen des Kirchenbundes darzulegen. Dabei trat ganz anders als in der Konkordie der hermeneutische Aspekt in den Vordergrund und mit ihm der schwierige gesellschaftspolitische Kontext des DDR-Sozialismus. Auch war das Rechtfertigungsthema mit anderen theologischen Fragestellungen zu verknüpfen, so mit der Frage nach Gott in einer atheistischen Welt oder der Frage nach der Gestaltung von Zukunft zwischen einer sich abzeichnenden Eskalation der Menschheitsprob-leme einerseits und der Fortschrittsutopie des Marxismus/Leninismus andererseits.
Die Brisanz dieser Verkopplung von theologischer Nachfrage, die möglichst auch für Nichttheologen nachvollziehbar sein sollte, mit der Reflexion der gesellschaftspolitischen Konstellation der Kirchen in der DDR dürfte der maßgebliche Grund dafür gewesen sein, daß die Gesprächsergebnisse der ersten Lehrgesprächskommission in der DDR niemals als Buch publiziert wurden und auch heute noch über das in der Bundesrepublik erschienene Kirchliche Jahrbuch erschlossen werden müssen. Der erste Werkstattbericht „Verkündigung, Lehre und Kirchengemeinschaft“ (Mai 1971) war in der DDR nur als hektographiertes Typoskript greif-bar . Dabei dürfte er für die Zensur am unproblematischsten gewesen sein, denn in ihm wurde der Auftrag der Kommission, die Entscheidung für die Arbeit am Rechtfertigungsartikel, das Problem von Lehre und Bekenntnisbindung und die Funktion der Bekenntnisse reflektiert. Werkstattbericht II (Dezember 1971) mit dem wichtigen Thema „Rechtfertigung und heutige Rede von Gott“ wurde ohne jeden editorischen Hinweis oder Kommentar unter der Rubrik „Umschau“ in den „Zeichen der Zeit“, der evangelischen Monatsschrift für Mitarbeiter der Kirche publiziert . Wer die Zusammenhänge nicht vor Augen hatte, konnte die Bedeutung dieses Textes nicht erfassen. Die häufig geführte Klage über die geringe Resonanz, auf die die Werkstattberichte in den Gemeinden stießen, läßt sich auch als Ausdruck eines Kommunika-tionsdilemmas diagnostizieren.
 Der dritte Werkstattbericht (Januar 1973), der nach einer nur hektographiert vorlie-genden Retrospektive von Joachim Wiebering „ein so breites Echo erfahren [hat], wie es bei keinem anderen Werkstattbericht der Fall war“ , war in der DDR nur für Leserinnen und Le-ser zugänglich, die das Mitteilungsblatt des Kirchenbundes bezogen . Das Echo erklärt sich aus der unmittelbaren gesellschaftspolitische Reichweite dieses Textes, war er doch dem Ver-hältnis von Rechtfertigung und Gesellschaft gewidmet. Immerhin konnte der Bericht über-haupt gedruckt werden. Lag es daran, daß die Lehrgesprächskommission das gesellschaftliche Bezugsfeld, von dem her und auf das sich die Gesellschaftsordnung in der DDR bestimmt wisse, mit dem Begriff des „sozialistischen Humanismus“ zu erfassen suchte? Natürlich ergab sich von der Rechtfertigungsbotschaft eine kritische Relation auf diese Art von Humanismus, aber man kommt nicht um die Feststellung herum, daß die Kommission mit der Wahl dieses Begriffs den „sozialistischen Humanismus als Ausprägung der marxistisch-leninistischen Weltanschauung“  sehr ungeschützt von seinem ideologischen Selbstverständnis her, nicht aber von seinen realsozialistischen Auswirkungen her in den Blick nahm.
 Die beiden letzten Werkstattberichte waren wieder in den „Zeichen der Zeit“ nachzu-lesen. Unter dem Titel „Rechtfertigung, Glaube und Bewußtsein“ riskierten die Autoren im Werkstattbericht IV (März 1973)  eine theologische Auseinandersetzung mit dem von den Ideologen der DDR doktrinär vereinnahmten Begriffen des Bewußtseins und der Weltan-schauung. Der Glaube an Jesus Christus begrenze die Ideologien auf das dem Menschen „nö-tige und verträgliche Maß“. Und weiter: „Man kann sagen, daß Ideologien den Glauben brau-chen. Sie brauchen ihn, um selbst für den Menschen brauchbar zu bleiben. Er bewahrt sie vor ihrer Selbstausweitung zu Heils- und Rechtfertigungslehren.“  Werkstattbericht V (September 1973) erörterte schließlich das Verhältnis von Rechtfertigung und Zukunft  und widmete sich damit der Zukunftsthematik, die damals im Osten wie im Westen – man denke nur an das vielgelesene Buch von Fritz Baade „Der Wettlauf zum Jahre 2000“ – lebhaft diskutiert wurde, heute jedoch, nach dem Zusammenbruch der Epochenillusionen des 20. Jahrhunderts, spürbar in den Hintergrund getreten ist.
 Mit den Werkstattberichten wollte die erste Lehrgesprächskommission sich selbst und der kirchlichen Öffentlichkeit Rechenschaft über den Stand ihres Gesprächs ablegen. Obwohl die Texte jeweils von der Kommission bis in den Wortlaut hinein abgestimmt und gemeinsam verantwortet worden sind, wirken sie fragmentarisch und unabgeschlossen. Das haben die Autoren so gewollt: Es sollten Werkstattberichte sein, und Werkstattberichte sind keine ab-schließenden Dokumente, sondern Protokolle laufender Klärungsprozesse. Das Drängen auf die theologische Klärung der Situation und damit ein bewußt gewählter Kontextbezug verdie-nen unseren Respekt. Aber je stärker das Bemühen um Konkretion, desto zeitgebundener die Ergebnisse: Wir würden heute über Rechtfertigung und Gesellschaft oder Rechtfertigung und Zukunft in vieler Hinsicht anders reden und auch anders reden müssen als damals die Autoren der Werkstattberichte, und zweifellos müßten wir auch das Problem des Atheismus und der Gottvergessenheit heute anders bearbeiten, als das vor über 30 Jahren in der DDR-Welt er-folgt ist. Insofern besteht der Ertrag jener Lehrgespräche zunächst in der Bezeichnung unver-mindert gültiger Aufgaben.
 Die Themenfrage „Wie verkündigen wir heute Rechtfertigung?“ hat von ihrem Ge-wicht nichts verloren. Beispielhaft war der Versuch, Aussagen der kirchlichen Lehre, theolo-gische Reflexion und die hermeneutische Aufgabe der Theologie ineinander zu verschränken.  Beispielhaft war auch die Verknüpfung der Frage nach Gott mit der Frage nach der Rechtfer-tigung des Sünders allein aus Glauben im zweiten Werkstattbericht. Wir erleben es immer wieder, wie diese beiden Fragen entweder auseinanderfallen oder aber sogar gegeneinander ausgespielt werden. Die Gottesfrage läßt sich aber nicht abstrakt, losgelöst vom Evangelium der Rechtfertigung, beantworten. Beispielhaft bleibt auch der Versuch, Rechtfertigung in den konkreten individuellen und gesellschaftlichen Lebensbezügen zu konkretisieren: sie zu inter-pretieren im Spannungsfeld von Annahme und Anforderung und den gerechtfertigten Men-schen als entlasteten und glücklichen Menschen darzustellen (Werkstattbericht III). Ich kenne nur wenige Texte, in denen das Lebensglück als Konkretionsmöglichkeit für Rechtfertigung erwogen wird. Die Kategorie der Entlastung wird dann im fünften Werkstattbericht wieder aufgenommen: Rechtfertigung sei eine Grunderfahrung, die unser Leben erneuert: „Gott be-ruft uns durch die von Jesus Christus herkommende Verkündigung zu Glauben, Liebe und Hoffen. Diese Berufung erfahren wir zuallererst als Entlastung unseres Lebens von dem Druck, uns selbst glauben, lieben und auf uns selbst hoffen zu müssen.“  Dies führt freilich nicht zur Geringschätzung der menschlichen Aktivität: „Die Entlasteten sind die Belastbaren. Ihre Gelassenheit ist Tragfähigkeit der Liebe, die sie im Rechtfertigungsgeschehen erfah-ren.“ 
 Beispielhaft ist schließlich die Ehrlichkeit, mit der die faktische Geltung der Bekennt-nisse in den an den Lehrgesprächen beteiligten Kirchen in den Blick genommen wird. Der erste und in seiner Anlage umfangreichste Werkstattbericht, den man auch als Fundamental-theorie von Lehrgesprächen überhaupt lesen kann, reflektiert die hier obwaltenden Differen-zen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Im Unterschied zur offiziellen Bekenntnisbindung der Kirchen spielten die Bekenntnisschriften im Bewußtsein der Gemeinden kaum eine Rolle. Von den Pfarrern würden sie nur mit Einschränkung oder überhaupt nicht mehr als Richt-schnur für Lehre und Verkündigung akzeptiert . Die heute oft tiefgreifenden theologischen Divergenzen ließen die Bekenntnisunterschiede der Reformationszeit vergleichsweise harm-los erscheinen und würden neue Fronten schaffen, die quer durch lutherische und unierte Kir-chen hindurchgehen. „So ist der offizielle Bekenntnisstand einer Kirche, mit dem, was in ih-rem Bereich gepredigt und geglaubt wird, kaum noch in Deckung zu bringen.“
 Was folgt daraus? Die erste Lehrgesprächskommission empfahl neues Nachdenken über den Sinn formulierter Bekenntnisse. Man sollte sich durch sie zum aktuellen Bekennen ermutigen lassen, aber eben deshalb auch um neue gemeinsame Bekenntnisaussagen bemü-hen: „Was wir brauchen, ist eine Aktualisierung der reformatorischen Bekenntnisschriften“ . Denn es gebe viele brennende Fragen, zu denen die Bekenntnisschriften als Dokumente ihrer Zeit schwiegen, so lägen zum Beispiel zu Fragen der Sendung und Weltverantwortung der Christen, der Diakonie und der Ökumene bisher keine bekenntnismäßigen Aussagen vor . Solche Aussagen sind damals von Lutheranern mitverantwortet worden! Man hat jedenfalls gesehen und daraus auch Konsequenzen ziehen wollen, daß die Bekenntnisschriften kein zeit-loses, unkritisierbares Depositum fidei sind. „Sie wollen der Verkündigung des Heilshandelns Gottes dienen. Deshalb können sie nicht mit der Heilswahrheit identifiziert werden. Sie sind nicht das Fundament der Kirche, sondern bezeugen, was für die Kirche fundamental ist. Als absolut gültige Lehr- und Verkündigungsnormen können sie deshalb nicht verstanden wer-den.“

3. Die Rolle der Leuenberger Konkordie
Die Lehrgesprächskommission hatte ursprünglich eine theologische Erklärung erarbeiten sol-len (und wollen), eine gemeinsame Lehrgrundlage der konfessionsverschiedenen Gliedkir-chen des Kirchenbundes. Die Werkstattberichte waren in erster Linie als Zwischenberichte gedacht gewesen, um den zu dieser Erklärung führenden Diskussionsprozeß transparent zu halten und die kirchliche Öffentlichkeit laufend zu informieren. Mit einer ausgeprägten Witte-rung für Schwachpunkte monierte Olaf Lingner aus der EKD-Perspektive im Jahr 1974 das Ausbleiben einer solchen Erklärung oder wenigstens eines entsprechenden Entwurfs und stell-te fest, „daß aus der Werkstatt der Lehrgespräche für die Feststellung einer Gemeinsamkeit in den Grundlagen der Verkündigung noch nicht einmal erste Ansätze verbindlicher theologi-scher Erklärungen erkennbar werden. Gemessen an dem erteilten Auftrag und dem gesteckten Ziel scheint das Erreichte in den dreijährigen Bemühungen erschreckend wenig zu sein“ .
 Wie kam es dazu? Die theologische Erklärung blieb aus, weil sie mit der Entstehung und dann Verabschiedung der Leuenberger Konkordie für verzichtbar gehalten wurde. 1971 war der maßgebliche Entwurf der Leuenberger Konkordie erarbeitet und den europäischen Kirchen zur Beratung vorgelegt worden, und im Frühjahr 1973 wurde der endgültige Text der Konkordie verabschiedet. Diese Entwicklung war bei der Auftragserteilung offenbar kaum absehbar gewesen. Die Kommission hat freilich den Leuenbergprozeß intensiv begleitet und dann in allen Phasen beratend an den landeskirchlichen Stellungnahmeverfahren mitgewirkt. Auf ihr Gutachten hin traten die acht Gliedkirchen des Bundes der Konkordie bei. Aber der Einfluß der Kommission lief auch in Richtung Europa. Horst Lahr, einer der beiden Vorsit-zenden, hatte selbst einen Vorentwurf zur Konkordie verfaßt. Und auf der maßgeblichen Ab-schlußkonferenz vom 11. bis 17. März 1973 waren mit Horst Lahr, Heinz Langhoff, Martin Seils, Walter Tannert und Helmut Zeddies fünf Angehörige (fünf von vierzehn!) der Lehrge-sprächskommission auf dem Leuenberg präsent und nahmen aktiv Einfluß auf die Endgestalt des Konkordientextes. Martin Seils könnte sogar das Urheberrecht für den endgültige Namen der Konkordie für sich beanspruchen.
 So sah man maßgebliche Elemente der ursprünglich geplanten theologischen Erklä-rung – einer Art Konkordie auf DDR-Ebene – in der Leuenberger Konkordie zur Geltung gebracht, so das gemeinsame Verständnis des Evangeliums der Rechtfertigung, so die Aussa-gen zu Verkündigung, Taufe und Abendmahl, so auch die Übereinstimmung angesichts der Lehrverurteilungen der Reformationszeit. Die Erarbeitung einer eigenen Lehrgrundlage hatte sich erübrigt, weil eine solche Lehrgrundlage mit der Konkordie gegeben war. So blieb es einerseits bei den Werkstattberichten. So kam es andererseits zu einer sehr fruchtbaren Ver-flechtung der Lehrgespräche in der DDR mit den Lehrgesprächen auf europäischer Ebene, die im Zeichen der Leuenberger Konkordie geführt wurden. In den Jahren nach 1973 stand für die Kirchen in der DDR die Frage nach der Intensivierung ihrer Kirchengemeinschaft und einer „Kirchwerdung des Bundes“ auf der Tagesordnung, man sah sich „zwischen Konkordie und Kirche“  und strebte eine weitreichende Strukturreform des überkommenen Landeskirchen-tums an. In diesen Zusammenhang gehörten auch die Lehrgespräche zwischen 1976 und 1978, von denen nun zu berichten ist.

4. Das Lehrgespräch über Amt, Ämter, Dienste und Ordination
Mit einem Lehrgespräch über Amt bzw. (im reformierten Plural:) Ämter und Ordination zwi-schen Lutheranern, Reformierten und Unierten betrat man damals Neuland. Insofern verdient das erreichte Ergebnis, das 1982 mit vierjähriger Verspätung auch als Broschüre veröffent-licht wurde , Aufmerksamkeit und Interesse. Die Verspätung der Druckfassung ist übrigens weder der Kommission noch den Herausgebern anzulasten, sondern schlicht auf die Publika-tionsbarrieren der sozialistischen Planungs- und Verteilungswelt zurückzuführen.
 Obwohl es zwischen dem lutherischen und dem reformierten Verständnis des Amtes und der Ämter eine Reihe von Unterschieden gibt, konnte die Kommission feststellen, daß diese Unterschiede in der Vergangenheit niemals kirchentrennende Bedeutung gehabt hätten und auch gegenwärtig kein Hindernis für eine intensivere Kirchengemeinschaft darstellten. Beide Traditionen nähmen jeweils wesentliche Aspekte des neutestamentlichen Zeugnisses auf. Deshalb sei es notwendig und sachgemäß, sie in ein Ergänzungsverhältnis zu bringen. Auf diese Weise würden Engführungen vermieden, und es werde möglich, den Reichtum des biblischen Zeugnisses für unser heutiges Verständnis der Aufträge in der Gemeinde fruchtbar werden zu lassen .
 Beide Traditionen stimmen darin überein, „daß Gott bestimmte Menschen (ge)braucht, um sein Wort als äußeres Wort und seine Zuwendung als äußere Handlung ausrichten zu las-sen“ . Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß die lutherischen Bekenntnisschriften nur von dem Amt der Verkündigung und Sakramentsverwaltung sprechen, während die re-formierten eine Mehrzahl von Ämtern in der Gemeinde kennen, nämlich die Ämter der Pasto-ren, der Lehrer, der Ältesten und der Diakone. Der Weg, diese Pluralität mit einer arbeitsteili-gen Differenzierung des in Confessio Augustana beschriebenen Predigtamtes zu begründen, wird freilich nicht beschritten. Denn die Reformierten verstehen die verschiedenen Ämter keineswegs als Ausgliederungen des einen Predigtamtes, sondern heben ebenfalls „einen ge-wissen sachlichen Vorrang des Predigtamtes hervor, ohne daß damit für die entsprechenden Amtsträger eine höhere persönliche Würde gegeben wäre“ . So entsteht ein fruchtbares Er-gänzungsverhältnis, da die lutherische Tradition durch diese plurale Ämterlehre ergänzt und bereichert werde, denn durch Confessio Augustana V werden andere Ämter neben dem „Pre-digtamt“ nicht ausgeschlossen.
Erleichtert wurde diese Sicht durch eine gemeindebezogene Lesart von Confessio Au-gustana V. Das Predigtamt wird nämlich nicht von vornherein mit dem Pfarramt identifiziert, sondern als Auftrag verstanden, der der ganzen Gemeinde gegeben ist. Das hat zur Folge, „daß die Aufträge, die herkömmlicherweise der Pfarrer, die anderen hauptamtlichen Mitarbei-ter und die übrigen Gemeindeglieder haben, aufeinander bezogen werden müssen“ . Von daher ergibt sich ein starker Akzent auf der Mitarbeit und Verantwortung aller Glieder der Gemeinde für die rechte Wahrnehmung des Verkündigungsauftrags und der Fülle der Beauf-tragungsweisen. Der offiziell Beauftragte der Kirche dürfe nicht meinen, „daß ihm die Ge-meindeglieder als die Menge der Nicht-Beauftragten gegenübersteht, nur weil sie keinen offi-ziellen Auftrag haben“ . Für eine Beauftragung mit dem Pfarramt bzw. der öffentlichen Wortverkündigung ergeben sich allerdings besondere Verbindlichkeiten, da es sich bei der öffentlichen Verkündigung und der Darreichung der Sakramente um die „äußeren Gnadenmit-tel“ handelt, „durch die der Glaube der Gemeindeglieder geweckt und gestärkt und durch die die Gemeinde gesammelt und geistlich geleitet wird“ . Menschen, die mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben betraut werden, sind zu ordinieren.
So stellt sich die Ordination als eine besondere Form der Beauftragung dar, nämlich als die „offizielle Beauftragung mit der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung“ . Darin ist die Ordination von anderen Beauftragungshandlungen wie denen der Einsegnung oder der Einführung zu unterscheiden. Auch an diesem Punkt ergab sich eine „große Überein-stimmung“  zwischen lutherischer und reformierter Tradition: Beide Traditionen halten im Normalfall eine ordentliche Beauftragung (ordinatio) der Amtsträger für erforderlich. Beide Traditionen legen Wert darauf, daß die bereits ordinierten Amtsträger und die Gemeinde bei der Ordination zusammenwirken. Und in beiden Traditionen erfolgt die öffentliche Einset-zung des Amtsträgers im Gottesdienst unter Handauflegung.  Damit war die in der Leuen-berger Konkordie erklärte gegenseitige Anerkennung der Ordination und damit des ordinati-onsgebundenen Amtes sehr klar fundamentiert und substantiiert worden.
Die Lehrgesprächsgruppe hat freilich auch die gegenwärtigen Herausforderungen be-achtet und die Fragen nicht verschwiegen, die sich an das traditionelle Amtsverständnis erge-ben. Es dürfe nicht übersehen werden, daß am Verkündigungsdienst der Kirche zunehmend auch andere Personen und Gruppen teilnehmen und daß die Begrenzung der finanziellen Mit-tel und der zur Verfügung stehenden Personen „eine Überprüfung der traditionellen Vertei-lung der Aufgaben und Verantwortungsbereiche der Kirche“ verlangen . Man hält klar an der Ordination als der offiziellen Beauftragung mit der Wortverkündigung und Sakramentsver-waltung fest, ist aber der Auffassung, daß die etwa von Katecheten, Diakonen oder Gemein-dehelferinnen wahrgenommenen Dienste zur Ordination berechtigen, sofern sie das Element der öffentlichen Wortverkündigung enthalten und damit eine Ausübung des „Predigtamtes“ von Confessio Augustana V darstellen . Ausdrücklich heißt es: „Eine Ordination dieser Mit-arbeiter würde deutlich machen, daß sie für eine Wahrnehmung des Verkündigungsauftrags in den Gemeinden bereit sind und zur Verfügung stehen.“  Die Lehrgesprächsgruppe votierte bewußt vorsichtig, ihre diesbezüglichen Äußerungen bewegten sich auf der Linie des Vor-schlags. Sie hielt es allerdings für notwendig, „daß das Verhältnis der Ordination zu den ande-ren Beauftragungsweisen deutlicher geklärt wird, da auch andere Dienste an dem in der Ordi-nation formulierten Auftrag teilhaben“ . Und in diesem Sinne hielt sie auch eine Anglei-chung der offiziellen Beauftragungen und der in ihnen begründeten kirchenrechtlichen Ver-bindlichkeiten für notwendig . Die damit anvisierten Aufgaben haben nichts von ihrer Dring-lichkeit eingebüßt, eher noch haben die hier fälligen Klärungen an Dringlichkeit gewonnen.

5. Das Lehrgespräch zum Verhältnis von Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherr-schaft Christi
Das Ergebnis der anderen Arbeitsgruppe der zweiten Lehrgesprächskommission lag ebenfalls im Herbst 1978 auf dem Tisch der Auftraggeber – des Rates der EKU und der Kirchenleitung der VELK in der DDR, die es intensiv beraten und es sich weitgehend zu eigen gemacht ha-ben. Der Text erreichte unter dem Obertitel „Kirchengemeinschaft und politische Ethik“ schon nach zwei Jahren den Buchmarkt der DDR , freilich in etwas verschlankter Form. Zum Votum der Kommission, das authentisch publiziert wurde, gehörten sieben Anlagen, unter ihnen Fallstudien, in denen die Rolle beider Lehren im Kontext von DDR-spezifischen Poli-tikfeldern untersucht wurde. Drei davon fehlen in der Druckfassung: die Fallstudie zur Rele-vanz beider Lehren für kirchliches Handeln anläßlich des 30. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus am 8.5.1975, die Fallstudie zu Konfirmation und Jugendweihe und die Fallstudie zur Formel „Einheit von Bürgerpflicht und Christenpflicht“, mit der die Ost-CDU den Chris-ten den DDR-Sozialismus schmackhaft zu machen suchte .
 Schon dieser Vorgang beleuchtet die Brisanz des Projekts. Es ging ja nicht nur um eine theologische Klärung, wie sich Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi zueinander verhalten, sondern immer auch um die Frage nach der rechten Wahrneh-mung der politischen Verantwortung durch Christen und Kirchen in einer ideologisch regle-mentierten Welt. Die Zwei-Reiche-Lehre stand unter dem Verdacht, eher die Anpassung an die politischen Verhältnisse zu begünstigen, während das Denkmodell der Königsherrschaft Christi anscheinend die Christen bestärkte, sich kritisch einzumischen und sich nicht einfach mit den Eigengesetzlichkeiten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu arrangieren. Daß auch dieses eher bei der Opposition gegen die Gesellschaft zu vermutende Denkmodell zur (christologisch begründeten) Anpassung verleiten konnte, wurde im Laufe der Kommissions-arbeit immer deutlicher, gerade auch bei der Arbeit an jener dann zurückgehaltenen Fallstudie zur vermeintlichen Einheit von Christen- und Bürgerpflicht. Es kam der Arbeit der Kommis-sion sehr entgegen, daß die damals relativ jungen Forschungen zur Zwei-Reiche-Lehre – unter ihnen die von Ulrich Duchrow – sowie die einschlägige Studienarbeit des Lutherischen Welt-bunds gründlich mit dem Vorurteil aufräumten, man könne auf dem Boden der Zwei-Reiche-Lehre nur politische Anpassungsstrategien entwerfen. Im Gegenteil: Nun wurden die kritisch-konstruktiven Potentiale der Zwei-Reiche-Lehre in den Vordergrund gestellt und der Dualis-mus von Glaube und Politik als Mißbrauch der Zwei-Reiche-Lehre identifiziert. Und dafür konnte man sich mit vollem Recht auf Luther berufen, was den DDR-Ideologen und ihren innerkirchlichen Sympathisanten, die die „Kirche im Sozialismus“ auf einen Dualismus von Rathaus und Kirche und einige religiöse Freizeitnischen fixieren wollten, alles andere als ge-heuer war.
 Das Votum würdigt zunächst die Grundintentionen beider Lehren und umreißt ihre unterschiedlichen Lesarten und Akzentuierungen. Sodann werden die Stärken und die Schwä-chen beider Lehren herausgearbeitet. Die Stärken der Zwei-Reiche-Lehre sind ihre sorgfälti-gen Unterscheidungen zwischen dem Weltlichen und dem Geistlichen, dem Glauben und der Vernunft, dem Letzten und dem Vorletzten. Die Stärken der Konzeption von der Königsherr-schaft Christi sind vor allem das Insistieren auf der Glaubensgemäßheit des christlichen Han-delns, das in der Gewißheit gründet, „daß jeder Christ mit seinem gesamten Leben unter der Herrschaft Christi steht“ . Die Schwäche der Zwei-Reiche-Lehre besteht in einer Überdeh-nung und damit Dualisierung ihrer Unterscheidungen, so daß die Auswirkungen des Glaubens auf das Handeln der Christen aus dem Blick geraten. Umgekehrt sind es entscheidende Schwachpunkte der Konzeption von der Königsherrschaft Christi, daß sie das christliche E-thos mit Sollaussagen überfordern und die Kirche der Gesellschaft „mit einem Anspruch ent-gegentritt, der Elemente von Besserwissen und Veränderungsforderung enthält, ohne daß dies detailliert und konkretisiert werden kann“ .
 Man müßte also beide Konzeptionen so aufeinander beziehen, daß ihre jeweiligen Stärken unvermindert wirksam werden, aber ihre jeweiligen Schwächen vermieden werden können. Die Kommission sah es nicht als möglich an, die eine in die andere Lehre zu integrie-ren . Wohl aber sei es möglich, daß sich beide Konzeptionen hinsichtlich ihrer Gefahrenmo-mente gegenseitig korrigieren. Die historische Sichtung der Rolle beider Konzeptionen hatte gezeigt, daß wir es nicht mit konfessionsspezifischen Denkansätzen zu tun haben: Nicht nur Luther, sondern auch Calvin und die Schweizer Kirchen haben die beiden Reiche unterschie-den, während die Lehre von der Königsherrschaft Christi trotz älterer Wurzeln erst im 20. Jahrhundert gegen ein rein säkularistisches Verhältnis von Staat und Gesellschaft voll ausge-bildet wurde. Beide Lehren „müssen also nicht als zwei konfessions-spezifische Lehrgebäude im Streit gegeneinander behauptet werden“ . Man kann ihnen deshalb auch keine wirklich kirchentrennende Rolle bescheinigen. Sie können vielmehr als „Interpretationsmodelle“ ver-standen werden (tatsächlich ist der Ausdruck „Lehre“, der ja eine ausgearbeitete Theorieleis-tung assoziiert, mißverständlich), die sich vielfach bewährt haben, und an deren Mißbrauch die Problematik von Verkürzungen und Anpassungen hinreichend deutlich geworden ist. Es ist zu prüfen, „ob sie auch komplementär aufeinander beziehbar sind, so daß sie zugleich wechselseitig Entscheidungsprozesse korrigieren können“ . Im Aufweis dieses Verhältnisses einer Komplementarität zwischen Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi besteht das eigentliche Ergebnis des Lehrgesprächs: Beide können „als wechselseitig sich ergänzende und einander korrigierende Interpretationsmodelle für das Handeln der Kir-che und der Christen im politisch-gesellschaftlichen Bereich verstanden werden“. Und: „Ge-sellschaftlich relevantes Handeln bedarf der begleitenden theologischen Reflexion“ .
 Dieses Ergebnis und die ihm zugrundliegenden Thesen fanden im Rahmen des europä-ischen Lehrgesprächs der Leuenberger Kirchengemeinschaft ein beachtliches Echo. Bemer-kenswert war auch die Resonanz im Votum des Theologischen Ausschusses der Evangeli-schen Kirche der Union zu Barmen V von 1986. Bei der Entfaltung der Gegenwartsbedeutung der fünften Barmer These wurde mehrfach zustimmend auf das Lehrgesprächsergebnis Bezug genommen . Ich kann das nur andeuten. Auf jeden Fall hat das Lehrgesprächsergebnis zur Zwei-Reiche-Lehre und zur Lehre von der Königsherrschaft Christi unter den damaligen Lehrgesprächsergebnissen der DDR-Kirchen die stärkste Beachtung erfahren.
 Gesellschaftlich relevantes Handeln von Kirchen und Christen bedarf der begleitenden theologischen Reflexion: dieser Grundgedanke war der Kommission besonders wichtig. Theologische Reflexion hilft gegen Anpassung und Opportunismus. Dazu gehört die umsich-tige Analyse der gesellschaftlichen und politischen Sachverhalte. Wenn in der Kirche, zumal in den Entscheidungsgremien, dazu nicht die Freiheit besteht, „ist die Vollmacht, in diesen Bereichen zu handeln, in Frage gestellt“ . Dazu gehören Kontrollfragen, die an den Einsich-ten beider Lehrmodelle orientiert sind und die Prozesse der Entscheidungsfindung steuern. Die wichtigsten Fragen seien genannt : Welche Grundlage hat die Entscheidung im Zeugnis der Schrift? Welche Impulse ergeben sich aus der Nachfolge des dienenden Christus für die konkrete Situation? Welche Nachteile werden von der Entscheidung befürchtet? Wieweit ha-ben solche Befürchtungen die Entscheidung selbst beeinflußt? Wie verhält sich die Entschei-dung zu dem Problem der Anpassung? Handelt es sich um kritisches, bewußtes Engagement oder einfach um Assimilation an gegebene Verhältnisse? Liegt in der gegebenen Entschei-dungssituation die Frage nach dem größeren Gehorsam gegenüber Gott vor? Wurde dieser radikalen Rückfrage ausgewichen? Wie kann vor aller Welt und für alle Menschen deutlich gemacht werden, daß Christen dazu da sind, Gottes Liebe zu bezeugen?
Fragen über Fragen. Wir haben damals angenommen, daß sich kirchliche Gremien in ihren Entscheidungsprozessen von solchen Fragen leiten lassen. Vermutlich sind wir zu opti-mistisch gewesen. Aber man kommt an solchen und ähnlichen Fragen nicht vorbei, wenn man im Sinne jener Denkmodelle seine Entscheidungen theologisch reflektiert. Die das Handeln begleitende theologische Reflexion steht nämlich in einem direkten Verhältnis zu der Freiheit, die der Kirche auch unter dem Druck des Faktischen verheißen ist.

6. Die bleibende Bedeutung der Lehrgesprächsergebnisse
Das Nachfolgende hat den Charakter eines ersten Gesprächsbeitrags: Es ist ungeschützt und vor allem frei von kirchendiplomatischen Rücksichten formuliert. Aber der Theologe braucht nicht immer Rücksicht auf Diplomatie zu nehmen. Im Gegenteil, von der Theologie kann er-wartet werden, daß sie uns bei unseren Strukturprozessen und Aktionen auch einmal unter-bricht und zur Nachdenklichkeit nötigt. Sie selbst, da kann ich unbesorgt sein, werden mich auch zu korrigieren wissen, wenn ich etwas Falsches oder Unpassendes sage.
Ich habe mir sechs Punkte notiert, an denen ich das, was bleibend wirklich interessant sein kann, festmache. Am ausführlichsten ist natürlich der erste Punkt, der es unmittelbar mit den Strukturprozessen zu tun hat, in denen wir uns, in denen sich die EKD bewegt.

6.1. Europäische Vernetzung und binnenkirchliche Orientierung
Es fällt auf, daß die Lehrgespräche in mehrfacher Hinsicht mit den Leuenberger Lehrgesprä-chen verflochten waren, sowohl beim Weg zur Leuenberger Konkordie als auch im Anschluß an die Verabschiedung der Konkordie im Horizont und Rahmen der auf die Konkordie fol-genden Lehrgespräche.
Viele der in den Lehrgesprächen der DDR gewonnenen Einsichten haben insofern auch anregend im europäischen Lehrgesprächsprozeß gewirkt. Nachweisen läßt sich das ganz klar im Blick auf die Gespräche zur Zwei-Reiche-Lehre und zur Lehre von der Königsherr-schaft Jesu Christi, also zu den Fragen der politischen Ethik . Aber auch auf dem Feld von Amt, Ämtern und Diensten gab es solche Wirkungen . Schließlich gab es sie auch bei einer neuen Frage, die in den achtziger Jahren auftauchte, nämlich der Frage nach der Kompatibili-tät von Lehrgesprächen mit unterschiedlichen ökumenischen Partnern und wie diese sich wie-derum zu den Leuenberger Prozessen verhalten .
Der Platz in Dissertationen und historischen Monographien ist den Lehrgesprächen auf alle Fälle sicher, aber nicht nur das. Wenn man sie ernst nimmt, muß man klar zum Ausdruck bringen, daß der Maßstab von evangelischen Lehraussagen in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts und danach nunmehr die Leuenberger Konkordie ist und daß sie die entscheidenden Kriterien für alle Lehrfragen bietet, mit denen wir uns heute beschäftigen.
Das führt mich zu der Frage nach der binnenkirchlichen Orientierung. Der Prozeß der Strukturreform, der jetzt in der EKD zu beschreiten und zu gestalten ist, war innerhalb des Bundes der evangelischen Kirchen schon sehr weit vorangeschritten. Übrigens saßen damals die Lutheraner eher auf der Lokomotive des Prozesses. Die von Unierten, Lutheranern und Reformierten einschränkungslos geteilte Auffassung bestand darin, daß Strukturfragen und Lehrfragen einander ganz eng berühren und daß man im Grunde nicht einfach nur Struktur-fragen diskutieren kann, sondern dies immer auch im Zusammenhang von Lehrfragen tun muß. Strukturprozesse und kirchenpolitische Aktionen bedürfen also der theologischen Refle-xion. Wird auf sie verzichtet, obsiegt der Pragmatismus und mit ihm die Fremdbestimmung der Kirchen durch Strukturzwänge aller Art, zu denen maßgeblich auch die Frage des Budgets gehört. Insofern eignet dem damaligen Lehrgespräch Modellcharakter. Man wird diese Lehr-gespräche so nicht wiederholen. Auch haben sie in vieler Hinsicht ihre Zeit gehabt, und zur nostalgischen Verklärung eignen sie sich wirklich auch nicht. Aber mindestens als Modell dürften sie sich nicht überholt haben, als Modell dafür, wie man in Form von theologischer Reflexion mit Strukturprozessen umgeht.
Unbestreitbar hat die Leuenberger Konkordie von 1973 in diesem damaligen Struk-turprozeß entlastend gewirkt. Man sah sich zunächst jedenfalls der Aufgabe enthoben, eine eigene Lehrgrundlage zu beschreiben. Denn nun gab es ja eine solenne theologische Erklä-rung, auf die sich auch die kirchlichen Partner im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR verstehen und mit der sie ihre Kirchengemeinschaft theologisch auch fundieren konn-ten. Ja sie konnten 1976 die Feststellung treffen, „daß die im Bund zusammengeschlossenen Gliedkirchen gemeinsam Kirche sind“ . Sie wird dann wieder aufgenommen in der Gemein-samen Erklärung zu den theologischen Grundlagen der Kirche und ihrem Auftrag in Zeugnis und Dienst vom 23. Mai 1985 . Mit dieser Erklärung haben sie faktisch die ekklesiale Quali-tät des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR behauptet und die dafür entscheidend maßgeblichen Lehrgrundlagen gemeinsam zu artikulieren versucht. Damit wollten sie die gliedkirchliche Gemeinschaft stärken und den binnenkirchlichen Partikularismus und Poly-zentrismus der Landeskirchen begrenzen. Man kann fragen, ob die Gemeinsame Erklärung von 1985 das hinreichend geleistet hat, zumal sie ja auch noch mit der resignierenden Fest-stellung anfängt, daß sich der 1979 in Eisenach vorgeschlagene Weg zur Bildung einer Verei-nigten Evangelischen Kirche als nicht gangbar erwiesen hat . Wenn man eine Erklärung mit einer resignativen Prämisse beginnt, muß man natürlich hinterher sehr starke Argumente ha-ben. Insofern leistet die Gemeinsame Erklärung auch Trauerarbeit. Aber die Frage, ob die EKD nicht mittelfristig doch zu einer solchen analogen Erklärung gelangen muß oder, wenn das nicht intendiert ist, den Strukturprozeß eindeutig intensiver theologisch zu reflektieren hat, als das nach meinem Eindruck gegenwärtig zu beobachten ist, diese Frage bleibt bestehen und bezeichnet eine sehr ernsthaft zu prüfende Aufgabe. Es ist ja auch mehr als deutlich, daß das tradierte protestantische Landeskirchentum in Deutschland bei der Lösung heutiger Auf-gaben immer wieder auf Grenzen stößt. Um uns zu ermutigen, würde ich sagen, daß auch die Stärkung der EKD die Landeskirchen nicht schwächen, sondern in ihrem Auftrag und in der Wahrnehmung ihres Auftrages in der Region gerade stärken wird.

6.2. Lehrgespräch zur Rechtfertigung
Zuletzt hat Eberhard Jüngel im Vorwort zu seinem Buch über die Rechtfertigung von 1998 dieses erste Lehrgespräch über die Rechtfertigungslehre im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR sehr anerkennend hervorgehoben . Rechtfertigung beschreibt den Kern des ge-meinsamen Zeugnisses, das wir auszurichten haben. Auch hier möchte ich über die einzelnen Formulierungen hinaus auf den Modellcharakter aufmerksam machen. Das Nachdenken über die Rechtfertigung wird eingebettet in das Nachdenken über die Kontexte in Gesellschaft und Lebenswelt. Angesichts der häufigen Verwechslung von Evangelium und Gesetz in der sonn-täglichen Normalverkündigung des Protestantismus werden wir zweifellos an eine bleibende Aufgabe erinnert. Man kann die damaligen Lehrgesprächskondensate – genannt Werkstattbe-richte – nicht konservieren wollen. Aber man kann sich von ihnen in den Aufgabenstellungen zur eigenen Weiterarbeit anregen lassen.

6.3. Bekenntnisse und Bekenntnishermeneutik
Besonders aufmerksam haben Sie vorhin zugehört, als es um die Frage ging, wie sich die normativ behauptete Bekenntnisgeltung und die faktische Bekenntnisakzeptanz in unseren Kirchen zueinander verhalten. Ich meine, daß dies zu denken gibt und daß wir darüber auch nicht einfach hinweggehen können, indem wir uns damit trösten, daß irgendwo in unseren Grundordnungen die in der jeweiligen Kirche geltende Lehre festgeschrieben ist.
Können wir also die Bekenntnisschriften einfach wie eine nicht überbietbare Lehr-norm fixieren und tradieren, ohne daß wir uns der sich stellenden Aufgaben des Übersetzens und Weiterdenkens annehmen? Hier stellt sich dann natürlich auch die Frage nach dem Lehr-konsens – manche nennen das auch den magnus consensus unserer Kirchen – und seiner Aus-legungsfähigkeit. Die in der Kirche geltende Lehre bedarf immer wieder der Vergewisserung und der hermeneutischen Besinnung. Durch Zitate allein klärt man jedenfalls seinen Bekennt-nisstand nicht.

6.4. Amt, Ämter und Dienste
Wie überraschend aktuell gerade dieses spezielle Lehrgesprächsergebnis sein kann, erfahren wir in diesen Monaten, in denen den Kirchen ein einschlägiger Text des Theologischen Aus-schusses der VELKD mit einem stachligen Sondervotum der Ausschußvorsitzenden zur Stel-lungnahme vorgelegt ist . Es wird gefragt: Kann man zwischen Ordination und Beauftragung so differenzieren, wie es im Votum des Theologischen Ausschusses der VELKD erfolgt? Wir stehen jedenfalls immer noch an dem Punkt, wo die realen Gegebenheiten in unseren Kirchen und Gemeinden neue Wege erforderlich machen, aber gleichzeitig eine Mischung von theolo-gischer Ratlosigkeit und rechtlichen Bedenken zu Lösungen führt, die offenbar keine sind. An diesem Punkt werden die Gliedkirchen der EKD in den vor uns liegenden Jahren noch sehr intensiv weiterarbeiten müssen. Und ich schätze, daß man dabei auch noch mancherlei aus den Lehrgesprächsergebnissen des Bundes lernen kann, zumal diese im Unterschied zur VELKD die Bedeutung des reformierten Verständnisses der Ämter in extenso unter Beweis stellten. Ich will hier kein reformiertes Sondergut vertreten, aber ich möchte doch sagen, daß das, was aus der reformierten Perspektive zu den Ämtern zu sagen wäre, sehr wohl auch noch einmal Akzente bietet, mit denen wir aus bestimmten Aporien heraus kommen könnten. Es gäbe Potentiale, die uns hier sowohl in ekklesiologischer als auch in rechtlicher und ökumeni-scher Hinsicht weiterführen könnten.

6.5. Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi
Der Verweis auf „Kirchengemeinschaft und politische Ethik“, wie das im Druck erschienene Lehrgesprächsergebnis betitelt wurde, ziert auch heute noch manches ethische Lehrbuch. Man kann feststellen, daß die gefundenen Lösungen auch heute noch als geglückt angesehen wer-den. Es wäre zu fragen, ob an diesem Punkt gegenwärtig wirklich ernsthafter Reflexionsbe-darf besteht. Der Protestantismus in Deutschland hat ja anscheinend aus seinen politischen Polarisierungen ein Stück herausgefunden und versteht sich auf einen beachtlichen Grund-konsens im Umgang mit staatlichen Institutionen und ihren Vertretern. Das Verhältnis ist fast durchgängig harmonisch und höflich, vielleicht manchmal zu höflich. Dennoch mehren sich natürlich die Fragen, und erst recht mehren sich diese Fragen auch auf dem Hintergrund des europäischen Kontextes. Das politische System der Gesellschaft, in der wir leben, wird immer unübersichtlicher. Die Prozesse scheinen so komplex zu sein, daß sie sich weithin als unsteu-erbar erweisen, auch wenn die Politiker bemüht sind, die Steuerung wenigstens zu inszenie-ren. Das herkömmliche protestantische Staatsverständnis bedarf dringend der Theoriearbeit, weil es der Funktionalisierung aller gesellschaftlichen Systeme längst nicht mehr Rechnung trägt. Fallstudienarbeit wie damals bei dem Lehrgespräch zur Zwei-Reiche-Lehre und zur Lehre von der Königsherrschaft Jesu Christi stünde im Interesse des kirchenleitenden Han-delns. Insofern könnte man sich neue Theorieanstrengungen vorstellen, die den Weg unserer Kirchen als gesellschaftlicher Teilsysteme im Horizont einer medial gesteuerten oder auch fehlgesteuerten Öffentlichkeit durchdenken und reflektieren und uns für die Schwächen, aber auch für die Stärken unseres Agierens hellhörig machen.

Das mögen einige Aspekte zur bleibenden Bedeutung der Lehrgespräche sein. Ich möchte es Ihnen überlassen, welchen Faden Sie aufnehmen und weiterspinnen möchten, oder welchen sie auch einfach – abschneiden wollen. Ich danke Ihnen vielmals für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Dr. h.c. Michael Beintker

 



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