Kirchengemeinschaft - Gemeinschaft von Kirchen

Selbstverständnis und Tradition in der Union Evangelischer Kirchen

Vortrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Christoph Markschies

Liebe Schwestern und Brüder,
 
daß der Prozeß der Strukturreform der gliedkirchlichen Zusammenschlüsse deutscher evangelischer Kirchen zur Freude der einen und zum Kummer der anderen seit zwei Jahren deutlich an Dynamik gewonnen hat, bedarf - jedenfalls von meiner Seite - nur weniger Worte: Ihre Anwesenheit hier im Rahmen der zweiten Vollkonferenz der UEK ist ein sprechendes Zeichen dafür. Etwas mehr Worte sollte ich schon darüber verlieren, daß - mindestens aus der Perspektive eines systematisch interessierten Kirchenhistorikers - die bisherige Debatte über den Prozeß der Strukturreform sich lediglich auf einige wichtige Fragen konzentriert hat. Es bedeutet gewiß keine Geringschätzung dieser Beiträge und schon gar nicht der Autoren, die diese Beiträge verfaßt haben, wenn ich mit aller Vorsicht hier meinen Eindruck formuliere, daß wir nun genug Klarstellungen zum theologischen Stellenwert der Leuenberger Konkordie, zur Bedeutung der Bekenntnisse für Fragen der Kirchenorganisation und zur Unverzichtbarkeit konfessioneller Prägungen im deutschen Protestantismus gehört haben. Eine Geringschätzung ist das schon deswegen nicht, weil ich solche Klarstellungen anderenorts auch selbst formuliert habe und davon auch gar nichts zurücknehmen möchte. Es wäre nur bedauerlich, wenn der einzige theologische Beitrag zur laufenden Strukturdebatte auf längere Sicht eben diese Wiederholung von theologischen Selbstverständlichkeiten ohne sonderlich großen Neuigkeitswert bliebe, weil dann die Chancen jenes Prozesses für die theologische Selbstverständigung evangelischer Kirchen in Deutschland ungenutzt blieben. Weil ich seit längerem befürchte, daß - auch bei mir selbst - eine gewisse Gefahr der Repetition von Selbstverständlichkeiten besteht, habe ich mich sehr über die Anfrage gefreut, in der heutigen Sitzung der Vollkonferenz über die Frage zu sprechen, welches Erbe die Union Evangelischer Kirchen in die Evangelische Kirche in Deutschland einbringt. Denn eine solche Frage vertieft die schlichte Erinnerung an die Bedeutung der Bekenntnisse hin zu einem umfassenden Nachdenken über ein theologisches und kirchliches Erbe. Wenn ein Kirchenhistoriker ein solches Nachdenken einleitet, könnte natürlich die Gefahr musealer Erinnerung bestehen und sentimentale Rückbesinnung auf eine fast zweihundertjährige Tradition drohen. Man sollte tunlichst auch nicht versuchen, die dreibändige „Geschichte der Evangelischen Kirche der Union“ in einem halbstündigen Vortrag zusammenfassen zu wollen oder gar zu ergänzen. Ich werden Ihnen aber schon deswegen keinen primär kirchenhistorischen Vortrag halten, weil die Frage nach dem theologischen und kirchlichen Erbe, das die UEK in die EKD einbringt, ja unmittelbar mit ihren in der Grundordnung formulierten gegenwärtigen Aufgaben zusammenhängt. Wenn die Union Evangelischer Kirchen „die Gemeinschaft innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Leuenberger Kirchengemeinschaft und der weltweiten Ökumene“ fördern will, dann stellt sich natürlich sofort die Frage, welche besonderen gemeinschaftsfördernden - ich könnte auch sagen: besonders gemeinschaftsfördernden - theologischen Theorien und kirchlichen Praktiken sowie institutionellen Modelle die UEK auf diesem Wege in die EKD einbringen will. In einer so jungen Gemeinschaft von Kirchen, die zugleich Kirche sein will, ist dies allemal auch eine Frage nach dem theologischen und kirchlichen Erbe, das die Evangelische Kirche der Union und die Arnoldshainer Konferenz in die UEK eingebracht haben, wenn es nicht vor allem eine Frage nach diesem Erbe ist. Ich werde also in der folgenden reichlichen halben Stunde nicht das Erbe dieser beiden gliedkirchlichen Zusammenschlüsse mit dem Anspruch der Vollständigkeit zu bilanzieren versuchen, sondern mich ganz auf die eben skizzierte Frage konzentrieren, welche besonders gemeinschaftsfördernden theologischen Theorien und kirchlichen Praktiken die UEK aus meiner beschränkten Sicht in die EKD einbringen kann. Dabei muß ich noch vorausschicken, daß dies der Blick eines erst jüngst aus Heidelberg nach Berlin berufenen Pfarrers und Theologieprofessors ist, der lange Jahre in Württemberg und Thüringen, aber nur kurze Zeit in Baden gelebt hat. Gelegentlich vermögen solche Außenperspektiven ja aber die Innenperspektiven anzuregen und zu befruchten und dies wollen wir in aller Zuversicht auch heute einmal hoffen.
 
 
Es versteht sich angesichts meiner Vorrede eigentlich fast von selbst, daß dieser Vortrag in zwei Hauptabschnitte gegliedert ist: Ich werde in einem ersten Abschnitt in zwei getrennten Gängen das „Erbe“ (dieses Wort steht in meinem Manuskript in Anführungsstrichen) der Evangelischen Kirche der Union und der Arnoldshainer Konferenz im Blick auf solche theologische Theorien und kirchliche Praktiken mustern, die aus meiner Sicht im besonderen Maß „gemeinschaftsfördernd“ im Sinne der einschlägigen Formulierung aus der Grundordnung wirken könnten. In einem zweiten Abschnitt werde ich mich dann an die wesentlich schwierigere Aufgabe machen, zu beschreiben, was „Gemeinschaft von Kirchen“ und mehr noch das Kirchesein der UEK unter dem Gesichtspunkt der Rezeption solchen gemeinschaftsfördernden Erbes näher bedeuten könnte. Daß es auch ein Erbe preußischer Kirchlichkeit gibt, das der vertieften Gemeinschaft der evangelischen Kirchen in Deutschland bis auf den heutigen Tag nicht unbedingt förderlich ist, muß ich glücklicherweise heute nachmittag nicht ausführen; vermutlich könnte man aber auch zu diesem Thema einmal einen Vortrag halten, der für UEK wie EKD nützlich wäre. Dies ist freilich heute nicht Gegenstand unseres Nachdenkens, sondern
1. Das gemeinschaftsfördernde Erbe der EKU und AKf in der UEK
Wenn wir untersuchen wollen, welche theologischen Theorien und kirchlichen Praktiken in den Vorgängerinstitutionen der UEK im besonderen Maß die Gemeinschaft innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland fördern können, dann müssen wir wenigstens kurz fragen, was eigentlich überhaupt Gemeinschaft von Kirchen fördern kann. Denn selbstverständlich hängt die Identifikation so beschaffener Traditionsgüter an einem vorausgesetzten Verständnis von Gemeinschaftsförderung. Ich würde - ungeachtet der Tatsache, daß zu diesem Thema eine Reihe wichtiger Beiträge aus den letzten Jahren vorliegen - vorschlagen, bei einer solchen vorläufigen Näherbestimmung von Kirchengemeinschaft von der Grundordnung der EKD auszugehen. Hier wird von einer Kirchengemeinschaft „im Sinne der Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie)“ gesprochen. Die Leuenberger Konkordie wiederum bestimmt Kirchengemeinschaft als „Gemeinschaft an Wort und Sakrament“ und als „eine möglichst große Gemeinschaft in Zeugnis und Dienst an der Welt“, die gestärkt und vertieft werden soll. Im Leuenberger Bericht von 1970, der der Konkordie voraufging, heißt es sogar noch ein wenig weitergehender: „Diese geistliche Gemeinschaft drängt zu größtmöglicher Gemeinsamkeit im innerkirchlichen Leben und im Zeugnis und Dienst an der Welt“. Die Rede von einem „Tatzeugnis“ präzisiert zusätzlich, worum es den Autoren der Leuenberger Konkordie ging. In der Kirchenstudie der Leuenberger Kirchengemeinschaft von 1994 ist, wenn ich recht sehe, zwar bilanziert worden, worin man glaubte, Fortschritte bei der Verwirklichung der Kirchengemeinschaft erreicht zu haben, aber kein neues Verständnis von Kirchengemeinschaft entwickelt worden. Das Votum des Theologischen Ausschusses der EKD „zum geordneten Miteinander bekenntnisverschiedener Kirchen“ unter dem Titel „Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis“ aus dem Jahre 2001 präzisierte den Begriff „Kirchengemeinschaft“ schließlich folgendermaßen: Kirchengemeinschaft impliziere, daß die Gemeinschaft (rechtlich) als handlungsfähige Institution geordnet und umfassend praktiziert werde sowie durch Lehrgespräche „an der unerläßlichen Weiterbildung der Lehre in den beteiligten Kirchen“ gearbeitet werde. Wenn wir diesem in der EKD einigermaßen konsensuellen Verständnis von Kirchengemeinschaft folgen wollen, müssen wir fragen, welche theologischen Theorien und kirchlichen Praktiken in den Vorgängerinstitutionen der UEK im besonderen Maß nicht nur die Gemeinschaft an Wort und Sakrament, sondern auch die Vertiefung dieser Gemeinschaft in institutioneller Hinsicht sowie in Zeugnis und Dienst an der Welt gefördert haben. Das tue ich nun in einem ersten Unterabschnitt für die frühere Evangelische Kirche der Union und darauf für die Arnoldshainer Konferenz.

1.1. Das gemeinschaftsfördernde Erbe der EKU in der UEK

Wenn man als Außenstehender die Beiträge liest, die in den Verhandlungen der Synoden der Evangelischen Kirche der Union dokumentiert sind und allzumal die Beiträge der Synoden seit den neunziger Jahren bis hin zur letzten im April des Jahres 2003, dann fällt auf, daß eigentlich sehr häufig mit der EKU auch ihr Erbe thematisiert wurde. Besonders deutlich war diese stetige Kombination von Rückschau und Vorblick natürlich beim Abschied vor einem Jahr: Im April 2003 hielt der Ratsvorsitzende Sorg „Rückblick“ und thematisierte der Präsident der Kirchenkanzlei die Frage „Was bleibt von der EKU in der UEK?“. Vor allem im Tätigkeitsbericht Hüffmeiers wurde eine große Zahl von theologischen, praktischen und institutionellen Arbeitsbereichen der EKU genannt, deren Fortführung in neuem Rahmen damals bereits gesichert war. Ich könnte nun so mit einem Durchgang durch Synodalprotokolle der EKU und APU fortfahren, lasse dies und erwähne nur noch einen Vortrag von Eckhard Lessing, der im April 1991 den theologischen Weg der EKU unter dem Titel „Gemeinschaft im Dienst am Evangelium“ bilanzierte. Denn Sie glauben mir hoffentlich auch ohne detaillierte Nachweise, daß die besonders enge Verknüpfung des Schicksals der altpreußischen Unionskirchen mit den Schicksalsjahren der jüngeren deutschen Geschichte - 1918, 1933, 1945, 1961 und 1989 - immer wieder eine Rückbesinnung auf das Erbe und seine Transformation in die Gegenwart notwendig machte. Meine eigene Antwort auf so alte Fragen wird unter diesen Umständen und angesichts so kluger Vorgänger von begrenzter Originalität sein. Aber darauf kommt es ja für unsere Fragestellung auch gar nicht an.
 
Als einen ersten Punkt des kirchengemeinschaftsfördernden Erbes der Evangelischen Kirche der Union möchte ich die altpreußische Union des neunzehnten Jahrhunderts selbst nennen. Auch wenn in der Leuenberger Konkordie ein deutlich anderes theologisches Modell des Verhältnisses von lutherischen und reformierten Kirchen beiden evangelischen Konfessionen die Erklärung von Kirchengemeinschaft ermöglichte, ist damit doch dieser spezifische Weg des neunzehnten Jahrhunderts nicht nachträglich als theologischer Irrweg gebrandmarkt worden. Auch wenn die Rede von bloß 'äußeren Umständen der Trennung der protestantischen Kirchen' in der Unionsurkunde von 1817 uns heute etwas voreilig und historisch wie theologisch problematisch erscheinen mag, bleiben doch einige Grundeinsichten dieses Textes auch für das einundzwanzigste Jahrhundert gültig. Mir scheint beispielsweise vollkommen zutreffend, daß eine Bewegung zur Erneuerung der Gemeinschaft zwischen den evangelischen Kirchen „den ersten Absichten der Reformatoren“ entspricht, „im Geiste des Protestantismus“ liegt, „den kirchlichen Sinn“ befördert sowie der „häuslichen Frömmigkeit“ heilsam ist, um Formulierungen der Urkunde von 1817 zu paraphrasieren. Ob alle Reformatoren das spezifische Ergebnis jener Bemühungen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts goutiert hätten, ist natürlich eine ganz andere Frage. Auf jeden Fall aber ist es historisch angemessener, Bemühungen um die Erneuerung der im sechzehnten Jahrhundert zerbrochenen Kirchengemeinschaft mit den eigentlichen Zielen der Reformatoren zu begründen, als - wie vor einiger Zeit wieder geschehen - die grundlegende Einheit der reformatorischen Bewegung insgesamt in Frage zu stellen und auf diese Weise die nachträglichen Trennungen im evangelischen Lager historisch wie theologisch auf beliebige Dauer zu stellen. Die altpreußische Union hat im neunzehnten Jahrhundert gegen konfessionalistische Tendenzen reformierter wie lutherischer Provenienz die Idee einer ursprünglichen Einheit der evangelischen Bewegung festgehalten; man kann sich fragen, ob es ohne diesen altpreußischen Dienst an der Einheit - wie auch immer man über seine konkrete Gestalt denken mag - zu der bewegenden Wiederherstellung der im sechzehnten Jahrhundert zerbrochenen Kirchengemeinschaft gekommen wäre.
 
Als einen zweiten Punkt des kirchengemeinschaftsfördernden Erbes der Evangelischen Kirche der Union möchte ich die theologische Entwicklung des Unionsgedankens insbesondere nach 1933 hervorheben. Wenn ich recht sehe, waren es vor allem Theologen aus der altpreußischen Union, die in der Auseinandersetzung mit der deutsch-christlichen Theologie und dem totalitären Staat eine unglückselige Alternative des neunzehnten Jahrhunderts überwanden, in die der Unionsgedanke hineingeraten war - Eckhard Lessing hat diese Alternative in seinem erwähnten Vortrag vor reichlich zehn Jahren ausführlich beschrieben, so daß ich nur kurz daran erinnern muß, daß durch die zunehmende Verbindung von Unionismus und Liberalismus einerseits und Konfessionalismus und Konservativismus andererseits das theologische Profil des lutherischen wie reformierten Bekenntnisses in den unierten Kirchen immer mehr abgeschliffen wurde. Dies war sicher nicht von Anfang an so: Wenn man die theologischen Debatten im Umfeld der altpreußischen Union zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts studiert, also beispielsweise Äußerungen eines Planck oder Schleiermacher nachliest, fällt auf, daß damals vielfältige Bedenken gegen einen allzu unbedachten Umgang mit den dogmatischen Differenzen zwischen lutherischem und reformiertem Bekenntnis erhoben wurden. Von einem vollständigen Zusammenbruch des lutherischen oder reformierten Profils der Gemeinden unmittelbar nach 1817 kann ja bei sorgfältiger historischer Betrachtung auch gar keine Rede sein. Die Entwicklung in der altpreußischen „Bekennenden Kirche“ nach 1933 würde ich nun nicht - wie gegenwärtig von manchen Systematikern vorgeschlagen - als Teil einer allgemeinen „Rekonfessionalisierung“ oder gar als „Neoorthodoxie“ beschreiben, sondern als allmähliche Realisierung der Einsicht, daß der Weg zu einer Erneuerung der Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten nur über die ausführliche Bearbeitung der konfessionellen Differenzen des sechzehnten Jahrhunderts möglich sein würde, nicht über ihre Marginalisierung oder Verdrängung in der liberalen Tradition des neunzehnten Jahrhunderts. Man könnte die allmähliche Verbreitung dieser Einsicht vorzüglich nachzeichnen, wenn man unter diesem Aspekt die altpreußischen Bekenntnissynoden bis hin zur zweiten Tagung der vierten Synode in Halle 1937 Revue passieren lassen würde: Es waren die Erfahrungen gemeinsamen Bekennens (wie beispielsweise in Barmen 1934), die die konfessionelle Frage erneut auf die Tagesordnung der altpreußischen Union brachten. Sie ermöglichten es der erwähnten Hallenser Synode auch, eine Entwicklung einzuleiten, die letztlich zu den Arnoldshainer Abendmahlsthesen und zur Leuenberger Konkordie geführt hat. Schon in Halle wurde am Beispiel des Abendmahls durch die Synode festgehalten, daß die Gemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten in der Union nicht durch die Unionsurkunde von 1817 begründet wurde, sondern im gemeinsamen Verständnis des Evangeliums immer schon konstituiert ist. Kurz gesagt: Kirchengemeinschaftsförderndes Erbe der Evangelischen Kirche der Union ist jene präzise Bestimmung des Verhältnisses von einem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums und den in diesem Licht gelesenen, unverändert geltenden Bekenntnissen der Reformation, für die auf der Synode in Halle 1937 der Grundstein gelegt wurde und die in der Leuenberger Konkordie von 1973 ihren Ausdruck gefunden hat. Diese auf die altpreußische Union zentrierte Sicht einer historischen Entwicklung ist sachgemäß, selbst wenn eine ganze Zahl von Theologen aus anderen evangelischen Konfessionen entscheidende Beiträge für den Prozeß geliefert haben - stellvertretend für viele Namen nenne ich nur den von Wenzel Lohff.
 
In einem dritten Punkt des kirchengemeinschaftsfördernden Erbes möchte ich an die theologische Arbeit der EKU seit 1945 erinnern. Es ist vielleicht kein Zufall, daß mir bei der Vorbereitung dieses Referates unter dieser Leitperspektive auf die Vergangenheit zunächst vor allem neuere Beiträge einfielen und insbesondere die weitgehend in einem gemeinsamen, östlich und westlich besetzten Ausschuß erarbeiteten Bände zur Interpretation der „Barmer Theologischen Erklärung“. Sie repräsentieren in Stärken und Schwächen vermutlich sehr authentisch ein Stück Geschichte der EKU zwischen 1974 und 1991. Selbstverständlich kann ich jetzt die stolze Reihe von Voten, Erklärungen und Stellungnahmen zu verschiedensten Themen - von der Bedeutung des Todes Jesu bis zur Frage der Kindertaufe - nicht einzeln aufzählen und schon gar nicht versuchen, eine theologische Gesamttendenz dieser vielfältigen Arbeiten zu erheben, die dann noch eine zusätzliche dritte systematische Perspektive neben den schon genannten beiden darstellen könnte. Für eine so profilierte Rückschau ist vielleicht auch noch zu wenig Zeit seit dem Ende der EKU vergangen. Deshalb erwähne ich nur mit großer Vorsicht meine Beobachtung, daß eine solche theologische Zentralperspektive der Arbeit der vergangenen Jahrzehnte möglicherweise die strikte Orientierung allen ekklesiologischen Denkens an den einzelnen Gemeinden war - schon in der Verfassung der APU von 1922 hieß es „Die Kirche baut sich aus der Gemeinde auf“ (Art. 4 Abs. 1). Aber die Frage, ob damit wirklich ein Leitmotiv so vieler Jahre präzise beschrieben ist, muß mindestens ich offen lassen. Mir geht es bei meinem dritten Punkt auch eher um die scheinbar mehr formelle Tatsache, daß die theologische Arbeit der EKU nicht ausschließlich in einem einzigen theologischen Ausschuß und durch die Förderung von Veröffentlichungen geschah, sondern in einer Fülle von wissenschaftlichen Einrichtungen, die Sie ja alle nur zu gut kennen: Ich nenne die „Evangelische Forschungsakademie“, die „Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus“ und den „Theologischen Arbeitskreis für Reformationsgeschichtliche Forschung“, aber auch die „Arbeitsgemeinschaft für Soziologie und Theologie“ in den späten fünfziger Jahren. Freilich ist ein solches breites kirchliches Engagement für universitäre Forschung verschiedenster Fachbereiche nur scheinbar eine Formsache. Dies wird in einer Zeit, da sich aus mancherlei Gründen die engen Bindungen der Nachkriegszeit zwischen den theologischen Fakultäten an den Universitäten und den Kirchen lockern, vielleicht leichter deutlich als noch vor Jahrzehnten. Mir scheint vielmehr - und das kann man ja in der Studie über „Bildung in evangelischer Verantwortung“ auch nachlesen -, daß dieses offene Engagement im intellektuellen Diskurs des Landes insofern von Anfang an zum Erbe der EKU gehört, als es sich direkt auf den Unionstheologen Schleiermacher berufen kann und vielleicht letztlich auch historisch von ihm herkommt. Daß dieses Erbe in der Geschichte der APU nicht immer in den besten Händen war, hat Otto Dibelius anläßlich des hundertsten Geburtstages Adolf Harnacks in bemerkenswert selbstkritischen Worten zugegeben, so daß wir diesen Punkt nicht vertiefen müssen.
 
In einem vierten Punkt des kirchengemeinschaftsfördernden Erbes möchte ich an die politische Dimension der Arbeit der Evangelischen Kirche der Union seit 1945 erinnern. Wir wissen alle, daß hier die ambivalenteren Traditionen aus der altpreußischen Geschichte - über die ich heute ja nicht ausführlicher reden wollte - über lange Zeit besonders fatal gewirkt haben. Angesichts dieser Dimension der Geschichte verwendete der Vorspruch vor dem Grundartikel der EKU von 1951 ja auch den Begriff „Buße“, um die besondere theologische Qualität des Rückblicks auf die politische Dimension der APU zu charakterisieren. Will man sie in dieser ganzen Ambivalenz ganz direkt anschauen, muß man sich nur in die Predigtkirche des Berliner Doms begeben: Da stehen - worauf Wolfgang Schäuble vor kurzem noch einmal hinwies - neben den reformierten wie lutherischen Reformatoren auch einige der Fürsten, ohne die die Reformation politisch gewiß nicht durchzusetzen gewesen wäre, die aber vielleicht für unser heutiges Empfinden nicht überlebensgroß in einem der Ehre Gottes gewidmeten Kirchenraum stehen müßten. Nachdem die Reihe der auf ihre Weise sehr eindrücklichen Laientheologen unter den preußischen Monarchen - man denke nur an Friedrich Wilhelm III. und IV. - 1918 mit einem eher verunglückten Laientheologen geendet hatte, begann eine Neubesinnung, deren Ergebnisse nach 1933 und in der Barmer Theologischen Erklärung sehr deutlich sichtbar wurden und sich nach der sehr schwierigen Phase der Neuordnung der APU unter den Bedingungen der deutschen Teilung bewährt haben. Da das Verhältnis zwischen EKU und DDR-Regierung von Anfang an gespannt war, gab es jedenfalls für die Institution als Ganze nie die Verführung, im Sinne einer mißverstandenen Zwei-Reiche-Lehre den Kurs einzuschlagen, den man einen „Thüringer Weg“ genannt hat. In der Distanz zum Staat war die Freiheit vorhanden, die Position der Kirche zum sozialistischen System angemessen zu bestimmen. Axel Noack hat auf der letzten EKU-Synode 1993 sehr pointiert gesagt, daß in der DDR das „theologische Nachdenken über das Leben in der Diktatur“ im strengen Sinne nur in den Organen der EKU stattgefunden hätte. Die einschlägigen Debatten behalten auch nach dem Ende der Diktatur ihre Bedeutung, ebenso wie auch die großen synodalen Auseinandersetzungen über Wiederbewaffnung, Atomrüstung und Westintegration: Es wäre nicht recht, unser heutiges politisches Urteil über einzelne damals vertretene Positionen zum Maßstab der Beurteilung der Qualität von solchen Debatten zu machen. Wichtig ist vielmehr, daß hier Recht und Grenze des politischen Wächteramtes der Kirche ein für allemal klar bestimmt worden sind. Und diese theologische Tradition bringt die UEK vermutlich doch auch weiter in die EKD ein, ohne heute darauf einen exklusiven Anspruch erheben zu können. Wenn beispielsweise der jetzige Ratsvorsitzende anläßlich seiner Wahl erklärte: „Die Kirche ist nicht ein politischer Akteur unter anderen, sondern mischt sich um Gottes Willen politisch ein“, dann entsprechen die in diesem Satz implizit vorgenommenen Abgrenzungen genau dieser theologischen Tradition.
 
Soweit mein äußerst subjektiver Ausschnitt aus der Fülle besonders gemeinschaftsfördernder theologischer Theoriebildungen und kirchlicher Praktiken, die die UEK meiner Ansicht nach aus dem Erbe ihrer Vorgängerinstitutionen in die EKD einbringen kann. Wenn ich jetzt noch einige Bemerkungen zur Arnoldshainer Konferenz anfüge, dann werden diese natürlich angesichts der ungleich kürzeren Geschichte der Institution auch wesentlich kürzer ausfallen. Aber deren Arbeit ist den meisten unter Ihnen ja auch so gegenwärtig, daß davon länger zu reden, auch schnell Verdruß und Langeweile provozieren könnte. Also nutze ich die Gelegenheit, mit der AKf auch die theologischen Traditionen der unierten Kirchen zu thematisieren, die nicht Mitglied der EKU waren oder geworden sind. Dabei greife ich zwei von den vier Punkten auf, die ich im Blick auf die Traditionen aus der EKU ausgewählt hatte.

1.2. Das gemeinschaftsfördernde Erbe der AKf in der UEK

Als einen ersten Punkt des gemeinschaftsfördernden Erbes aus der AKf möchte ich deswegen hier nun neben die altpreußische Union die nichtpreußischen Unionen des neunzehnten Jahrhunderts stellen, deren theologische Traditionen vermittelt durch die AKf in das theologische Erbe der UEK gekommen sind und zu einer weiteren Entprussifizierung - wenn Sie mir das Wort gestatten - eines einst stark von Preußen dominierten theologischen Erbes führen werden. Die badische Union, an die zu erinnern mir angesichts meiner vor kurzem beendeten Tätigkeit in Heidelberg naheliegt, ist im Unterschied zur altpreußischen ein schönes Beispiel dafür, daß sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nicht nur Theologen einer bestimmten Provenienz, sondern die Gemeinden selbst ein Gefühl für die tiefgehende Einheit der reformatorischen Bewegung bewahrt hatten und zu Promotoren der Unionsbewegung wurden. Sie werden mir nachsehen, wenn ich jetzt nicht auch noch versuche, die Unionen in den verschiedenen hessischen Territorien oder in der Pfalz zu charakterisieren, um die durch die nicht der EKU angehörenden Mitglieder der AKf repräsentierte Vielfalt zu dokumentieren, sondern es bei einem einzigen Beispiel belasse, weil das, was mir in diesem Punkt wichtig ist, hoffentlich auch schon deutlich wurde: Eine ausführliche Analyse der theologischen Traditionen der Mitgliedskirchen der UEK an diesem Punkt lohnt sich in den kommenden Jahren schon deswegen, weil der Reichtum dieser Traditionen beispielsweise allein in Hessen durch unsere vertrauten Schematisierungen von Konsens- und Verwaltungsunionen nur ansatzweise erfaßt wird.
 
In einem zweiten Punkt möchte ich wenigstens kurz an die theologische Arbeit der AKf erinnern, die sich - mindestens in der Westregion der EKU - zu einem guten Teil mit der theologischen Arbeit der Westregion überschnitt. Freilich gab es natürlich auch Spezifika, beispielsweise die durch Eduard Lohse, Wenzel Lohff und Trutz Rendtorff inaugurierten und abwechselnd bis heute von AKf und VELKD abwechselnd verantworteten Konsultationen „Kirchenleitung und wissenschaftliche Theologie“. Wenn ich recht sehe, besteht freilich ein Defizit theologischen Nachdenkens, das EKU wie AKf der neuen UEK weitergereicht haben: Die EKU hat (allzumal nach den Erfahrungen des Kirchenkampfs) die konfessionellen Bekenntnisse nicht „vergleichgültigt“, wie es in einer für die letzte gemeinsame Tagung der Bereiche dieser Kirche im April 1991 angefertigten „Erklärung zur theologischen Grundbestimmung der Evangelischen Kirche der Union“ heißt, sondern seit ihrer Gründung die Möglichkeit geboten - ich zitiere wieder diese Erklärung - „das Evangelium von Jesus Christus im Lichte der lutherischen Bekenntnisse, im Lichte der reformierten Bekenntnisse oder unter Betonung der Gemeinsamkeit beider Bekenntnisse auszulegen. Als unierte, d.h. vereinigte Kirche, hält die EKU es für berechtigt, daß diese Traditionen in einer Kirche vereinigt leben, weil sie beide ein gemeinsames Grundverständnis vom biblischen Evangelium besitzen“. Wenn ich recht sehe, könnte von Seiten der Evangelischen Kirche der Pfalz so nicht formuliert werden und wohl auch nicht aus Perspektive der Evangelischen Landeskirche in Baden, schon gar nicht aus der Perspektive der Bremischen Evangelischen Kirche. Wenn dem so ist, dann wird die UEK wohl aber nicht darum herumkommen, sich mit aller Sorgfalt der Frage anzunehmen, was eigentlich zwischen den Gliedkirchen Konsens im Verständnis von „Union“ ist. Handelt es sich um ein schlichtes Synonym des allgemeinen Begriffs „Kirchengemeinschaft“ oder vielmehr um einen speziellen Fall einer Gemeinschaft von Kirchen? Wodurch wäre dieser Spezialfall gekennzeichnet? Durch eine größere Dichte bzw. Enge der Gemeinschaft - um eine Formulierung aus der alten EKU zu bemühen - als in anderen Kirchengemeinschaften? Und wenn dem so wäre: Worin konkretisiert sich diese engere Gemeinschaft schon und auf welchen Feldern muß sie noch aufgebaut werden? Ich vermute übrigens, daß solche Klärungen auch für bestimmte lutherische Theologen äußerst hilfreich wäre und auf diese Weise dem ganzen Prozeß der Strukturreform dienen könnte. Die UEK wäre auf diese Weise wie einst die EKU Motor eines theologisch verantworteten Zusammenwachsens der EKD, in dem die Spezifika der einzelnen Traditionen nicht abgeschliffen werden. Erst dann - ich hoffe, Sie sehen mir das offene Wort nach - ist übrigens auch sichergestellt, daß sich alle im Verständnis des Satzes „als Gemeinschaft von Kirchen ist die Union Kirche“ aus der Grundordnung der UEK (Art. 1 (3)) wirklich einig sind.
 
Damit sind wir freilich unversehens schon bei einer Frage angekommen, die unmittelbar den ekklesiologischen Status der UEK betrifft und damit im Grunde in unseren zweiten Abschnitt gehört.

2. Das Erbe der UEK und ihr ekklesiologischer Status

Vorhin hatte ich diesem zweiten, etwas kürzeren Abschnitt meines Vortrags die Aufgabe zugewiesen, zu beschreiben, was „Gemeinschaft von Kirchen“ und darüber hinaus das Kirchesein der UEK unter dem Gesichtspunkt der Rezeption solchen gemeinschaftsfördernden Erbes näher bedeuten könnte. Ich gehe zu diesem Zweck nun noch einmal die genannten vier Punkte, in denen ich das kirchengemeinschaftsfördernde Erbe der UEK in seiner Bedeutung für die ganze evangelische Kirche zu bilanzieren versucht hatte, durch.
 
Ganz gewiß besteht die Bedeutung des ersten Punktes, also der altpreußischen Union des neunzehnten Jahrhunderts und der anderen Unionen evangelischer Kirchen für die UEK nicht darin, daß die entsprechenden Unionstexte und ihre leitenden Theologien als Bekenntnisgrundlage dieses neuen Zusammenschlusses dienen oder zu einer solchen für die UEK oder gar die EKD gemacht werden sollten. Entsprechende Befürchtungen im Umfeld der jüngsten Debatte über eine Strukturreform können, so scheint mir, sehr fröhlich und sehr nachhaltig zerstreut werden. Bleibende Bedeutung hat aus diesem Punkt des Erbes der Vorgängerinstitutionen meines Erachtens eigentlich auch nur das hartnäckige Interesse an der Einheit der reformatorischen Kirchen, das die Väter mit Recht für ein zentrales Element reformatorischer Theologie gehalten haben. Wir sehen heute vielleicht deutlicher, daß auch ein hartnäckiges Interesse an der Einheit der weltweiten Kirche Jesu Christi ein zentrales Element reformatorischer Theologie war. So ist vielleicht die sachgemäßeste Weise, diese Dimension unseres Erbes zur Geltung zu bringen, ein Engagement für eine realistische weltweite Ökumene in der den verschiedenen Kontexten jeweils angemessenen Form. Den inneren Zusammenhang zwischen dem Streben des frühen neunzehnten Jahrhunderts nach Einheit und unserem Interesse an einer versöhnten Verschiedenheit der großen Konfessionen hat vor einem Jahr Manfred Kock schön zum Ausdruck gebracht, als er sagte, daß die EKU zu allen Zeiten ihrer Existenz einen „ökumenischen Dienst an der Einheit der Kirche“ habe leisten wollen. Es wäre jammerschade, wenn die neu konstituierte UEK nicht in diesem Sinne auch weiter ökumenische Impulse geben würde, beispielsweise für die Intensivierung des Gesprächs mit den Kirchen im Osten Europas, denen sie schon aus geographischen und historischen Gründen näher steht als andere Gliedkirchen der EKD. Auf diese Weise würde fortgesetzt, was in der östlichen Region spätestens in den siebziger Jahren durch die Kontakte mit den orthodoxen Kirchen begonnen wurde, und ernstgenommen, welche bewegende Entwicklung sich durch die Ost¬erweiterung der EU vor wenigen Tagen vollzogen hat.
 
Mit dieser Dimension des ökumenischen Dienstes an der Einheit der weltweiten Kirche hängt die Bedeutung des zweiten Punkts für die künftige UEK zussammen: Die theologische Entwicklung des Unionsgedankens insbesondere nach 1933 hat, wie ich sagte, die Entwicklung hin zu den Arnoldshainer Thesen und zur Leuenberger Konkordie mit begründet. Die Konkordie versteht, wie wir sagten, unter der Kirchengemeinschaft eine insofern verpflichtende Gemeinschaft, als sich die Signatarkirchen um eine „Stärkung und Vertiefung der gewonnenen Gemeinschaft“ bemühen sollen. Es wäre ein besonderer Dienst am Erbe der ostdeutschen Region der EKU, wenn sich die UEK innerhalb der EKD nicht nur bei weiteren Lehrgesprächen engagieren würde, sondern sich zunächst einmal noch stärker für die Rezeption der im Westen nahezu unbekannten Lehrgespräche aus der alten DDR über Rechtfertigung, Kirchengemeinschaft, „Zwei-Reiche-Lehre und Lehre von der Königsherrschaft Christi“ sowie „Amt - Ämter - Dienste - Ordination“ einsetzen würde. Warum gibt es nicht wenigstens eine Neuauflage dieser Texte? Warum werden sie nicht zum Gegenstand eines kleinen Symposiums gemacht? Es entspräche ferner diesem Erbe, wenn die UEK weiter versuchen würde, auch im Blick auf die vielleicht doch einmal mögliche Kirchengemeinschaft mit der römisch-katholischen Kirche auf der Basis der Leuenberger Konkordie zu bestehen. Ich glaube selbstverständlich nicht, daß das Leuenberger Modell einfach unverändert übernommen werden kann, aber halte es nach wie vor für einen guten Startpunkt einer kaum absehbaren Serie von Gesprächen, für die man vermutlich einen äußerst langen Atem braucht. Insofern ist die enge Verbindung der Verwaltung der UEK mit dem Sekretariat der Leuenberger Kirchengemeinschaft durchaus sachgemäß und nicht nur ein historischer Zufall. Und auch an dieser Stelle scheinen mir die Ergebnisse der Lehrgespräche innerhalb der alten DDR noch einmal einschlägig: Da gegenwärtig auf verschiedenen Ebenen der Dialoge - beispielsweise im Ökumenischen Arbeitskreis Evangelischer und Katholischer Theologen - über das ordinierte Amt und die verschiedenen konfessionellen Sichtweisen darauf nachgedacht wird, wäre es ein tiefer Schade, wenn grundlegende Einsichten des Gesprächsgangs über „Amt - Ämter - Dienste - Ordination“ in Vergessenheit geraten würden, etwa die Warnung vor einer Isolierung des Amtes gegenüber der Gemeinde. Da wäre dann das Erbe der Vorgängerinstitutionen der UEK preisgegeben. Wenn meine vorhin geäußerte laienhafte Beobachtung zutreffen sollte, daß eine Zentralperspektive der theologischen Arbeit der vergangenen Jahrzehnte die strikte Orientierung allen ekklesiologischen Denkens an den einzelnen Gemeinden war, darf nicht unter der Hand in der evangelischen Theologie eine Amtstheologie eingeführt werden, die das Amt der Gemeinde gegenüberstellt und so von ihr separiert. Dann würde auch die theologische Begleitung der gewaltigen Umwälzungsprozesse kirchlicher Strukturen, die uns allein aus demographischen Gründen in den nächsten Jahrzehnten bevorstehen, sehr schwierig.
 
Im Blick auf den dritten Punkt, die theologische Arbeit beider Einrichtungen seit 1945, scheint mir das kirchengemeinschaftsfördernde Erbe von EKU und AKf gegenwärtig am stärksten bedroht. Dabei meine ich nicht die andauernde theologische Wirkung all' der schönen Studien und Texte in Kirche und Theologie - ein Blick auf die stolze Reihe der Kommentierungen der Barmer Thesen hat mich vor einigen Tagen wieder von dem gerade begonnenen Vorhaben abgebracht, der Berliner Kirchenzeitung mal eben eine „siebente Barmer These“ zur gegenwärtigen Ergänzung der Theologischen Erklärung vom Mai 1934 zu schicken, wie eine Redakteurin dies freundlich erbeten hatte. Nein, ich befürchte, daß in Zeiten knapper Kassen gerade die Förderung der wissenschaftlichen Einrichtungen bedroht sein könnte, mit denen die EKU nach 1945 das bildungstheologische Erbe Schleiermachers realisiert hat. Ist die Grundidee einer evangelischen Forschungsakademie angesichts der zunehmenden Entfremdung vieler hochkarätiger junger Wissenschaftler von Kirche und Theologie bzw. ihrer vollkommenen Unbildung auf diesem Gebiet nicht wichtiger denn je? Und müßten wir ungeachtet aller finanzieller Engpässe nicht noch viel mehr in diesem Bereich investieren? Beispielsweise nicht nur gemeinsam kirchliche Hochschulen erhalten, sondern weitere evangelische Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen gründen? Und gilt das nicht besonders für die östlichen UEK-Kirchen, wie Präses Beier schon 1992 mit großer Verve auf der EKU-Synode forderte? Müßte angesichts der gegenwärtigen Diskussion um den Status theologischer Fakultäten an den Universitäten nicht auf die Schaffung einiger großer, wirklich gut ausgestatteter Fakultäten mit entsprechender Außenwirkung gedrungen werden? Ist es nicht ein tiefer Schade, daß aufgrund von ausbleibender Koordination nahezu überall heruntergekürzt wird und die Chance der gegenwärtigen Lage zu wirkungsvoller Konzentration nirgendwo genutzt werden kann? Wäre es nicht im Sinne des Erbes der Vorgängerinstitutionen, wenn sich die UEK zu einem Motor solcher evangelischer Bildungsanstrengungen in der EKD machen würde? Ich frage ja nur.
 
Ob unsere evangelische Kirche in Deutschland die Hilfe der UEK im Blick auf den vierten Punkt ihres kirchengemeinschaftsfördernden Erbes - die politische Dimension der Arbeit der Evangelischen Kirche der Union seit 1945 - in einem strikten Sinne nötig hat, fällt mir schwer einzuschätzen. Aber die gegenwärtigen Herausforderungen allein durch den globalisierten Terror oder die Umstellungskrisen der Wirtschaft sind so groß, daß die Arbeit an diesen Themen gewiß nicht den Experten im politischen Bereich (bzw. den vom politischen Bereich herangezogenen Experten) überlassen werden darf. Da auf der anderen Seite gegenwärtig immer mehr Fachwissen notwendig wird, um begründet zu politischen Fragen Stellung nehmen, ist auch hier kirchliche Bildungsarbeit gefordert, damit politische und (sozial-)ethische Stellungnahmen der Kirchen nicht in reinen Dilettantismus abkippen. Ich glaube übrigens auch, daß sich die lutherischen und unierten Kirchen noch zu wenig mit der spezifischen theologischen Tradition eines politischen Zeugnisses in den reformierten Kirchen und Gemeinden auseinandergesetzt haben (hier konnte man in der jüngsten Strukturdebatte gelegentlich arge Vorurteile über die reformierte Position hören) - die UEK böte einen Rahmen, um solche Lehrgespräche bald zu beginnen und mit Gewinn zu führen. Wenn die UEK sich darüber hinaus eines der gegenwärtig drängenden politischen Themenfelder besonders annehmen wollte, böte sich angesichts der langen Erfahrungen mit totalitären Gesellschaftssystemen beispielsweise die Frage nach der Gestalt von Friedenspolitik in Zeiten globalisierten Terrors an.
 
Ein solcher, äußerst knapper und damit mehr als unbefriedigender Hinweis auf große Problemfelder macht noch einmal die engen Grenzen meines Referates deutlich, das sich sehr stark mit spezifischen Problemen deutscher Kirchlichkeit beschäftigt hat und vielleicht doch noch zu stark von den gegenwärtigen Diskussionen der Strukturdebatte geprägt war. Eine Schicksalsfrage für die künftige Bedeutung des Erbes der Vorgängerinstitutionen der UEK wird sicher sein, inwieweit es gelingt, die eben genannten Punkte und weitere im Gespräch mit anderen europäischen Kirchen zur Geltung zu bringen. Aber diesen Horizont haben Sie bei der Formulierung der Grundordnung der UEK ja bereits bedacht, wenn als Aufgabe dieser Kirchengemeinschaft bestimmt wurde, „die Gemeinschaft innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Leuenberger Kirchengemeinschaft und der weltweiten Ökumene zu fördern“. Ich habe mich in meinem Referat - darin der Aufgabenstellung folgend - gleichwohl auf die EKD konzentriert. Aber mindestens am Schluß muß noch kurz davon die Rede sein, daß eine solche Musterung des Erbes auch im Blick auf die europäische und die weltweite Ökumene erfolgen könnte und müßte. Dies ist freilich, um ein letztes Mal das Erbe der UEK zu bemühen, genauer einen begnadeten Chronisten dieses Erbes, „ein weites Feld“, eher ein Thema für eine weitere Tagung der Vollkonferenz. Bevor ich aber auch noch anfange, Vorschläge für weitere Referate zu machen, schließe ich lieber dieses ab und danke Ihnen für Ihre Geduld, mit der Sie meine durchaus subjektive und schon allein deswegen gewiß äußerst ergänzungsbedürftige Auslese aus einer reichen Geschichte angehört haben.

Christoph Markschies (Berlin)
 



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