Die Menschenwürde im Spiegel der Wissenschaften

Rückblick auf die Januartagung der Evangelischen Forschungsakademie

19. Januar 2009

Tagungsteilnehmer

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – so steht es bekanntlich im Grundgesetz, Artikel 1. Ein (weniger bekannter) Zusatz macht deutlich, dass diese Aussage unmittelbar geltendes Recht ist: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dass die Menschenwürde in der deutschen Verfassung eine herausgehobene Rolle spielt, wird oft als Selbstverständlichkeit angesehen. Ein Blick auf die Verfassungen anderer Länder zeigt aber: Es handelt sich um eine Besonderheit, die vor allem als Antwort auf die systematische Missachtung der Menschenwürde durch den Nationalsozialismus zu verstehen ist.. Dies ist eines der Ergebnisse der 122. Tagung der Evangelischen Forschungsakademie (EFA), die Anfang Januar in Berlin stattgefunden hat. Rund 100 Teilnehmer hatten sich dazu in den Räumen der Berliner Stadtmission eingefunden. Unter der Überschrift „Die Würde des Menschen – Herausforderungen in unserer Zeit“ wurden in acht Vorträgen und einer Podiumsdiskussion die aktuellen Probleme des Themas aus der Sicht der Theologie, der Philosophie, der Sozialpsychiatrie, der Ethik und der Rechtwissenschaft analysiert und zum Teil kontrovers diskutiert.

Ausführlich dargestellt wurde die geschichtliche Entwicklung des Begriffs Menschenwürde, von der Antike über die Aufklärung bis in die Gegenwart. Gunda Schneider-Flume (Leipzig) hob in ihrem theologischen Eröffnungsvortrag unter der Überschrift „Die Geschichte der Imago Dei als Schutzraum der Menschenwürde“ den biblischen Zusammenhang hervor: Der Mensch ist geschaffen als „Bild Gottes“. Menschen haben allein deshalb, weil sie Menschen sind, eine ihnen von Gott zugesprochene Würde. Dies habe, so betonte Schneider-Flume, Auswirkungen auf das Handeln des einzelnen und auf ethische Entscheidungen der Gesellschaft.

Der Philosoph Peter Kunzmann (Jena) betonte den Aspekt der Individualität des Menschen. In seinem Vortrag „Menschenwürde und Kreatürlichkeit“ sprach er von der Bedürftigkeit des Menschen, von dessen Angewiesensein auf Zuwendung. Die biblische Erzählung vom barmherzigen Samariter sei dafür ein charakteristisches Modell. Die Psychologin Renate Schernus (Bielefeld-Bethel) beschrieb die Forderung eines menschenwürdigen Umgangs mit kranken und behinderten Menschen. Die Frage „Lohnt sich das noch?“ dürfe im Umgang mit Kranken oder Behinderten nicht gestellt werden. Es sei geboten, der Ökonomisierung im Gesundheitswesen ebenso zu widersprechen wie der Tendenz, von den auf Hilfe angewiesenen Menschen als von „Kunden“ zu sprechen.

Unterschiedliche Positionen vertraten die Philosophieprofessoren Marcus Düwell (Utrecht) und Georg Lohmann (Magdeburg). Düwell erklärte, Menschenwürde meine die Befähigung des Menschen zu autonomer Lebensgestaltung; entscheidend seien die konkreten Menschenrechte, die aus diesem Verständnis der Menschenwürde abzuleiten sind. Gott spiele in diesem Kontext keine Rolle; das Christentum habe historisch betrachtet zunächst dem Gedanken der Menschenwürde widersprochen. Georg Lohmann betonte demgegenüber, dass schon in der Antike und im christlichen Mittelalter von Menschenwürde gesprochen worden sei. Zwar gebe es unterschiedliche Konzeptionen, aber keinesfalls handele es sich um eine „Leerformel“. Nach den Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg sei das Thema ins Zentrum gerückt. Entscheidend sei die Einsicht, dass die Menschenwürde unverlierbar sei, auch wenn ihm die Teilhabe an den Menschenrechten möglicherweise verweigert werde.

Gregor Paul, Philosophieprofessor in Karlsruhe, zeigte auf, dass schon im vorchristlichen Altertum in China bei Konfuzius und bei Menzius der Gedanke der Menschenwürde entwickelt worden war. In diesem philosophischen Denken sei man davon überzeugt, dass der Freitod besser sein könne als ein würdeloses bloßes Überleben. Im 19. und 20. Jahrhundert spiele in China und auch in Japan diese Perspektive im politischen und philosophischen Gespräch mit den westlichen Konzeptionen von Menschenwürde eine erhebliche Rolle. Hier wie dort entspreche freilich die politische Wirklichkeit nicht immer dem philosophischen Ideal.

An zwei aktuellen juristischen und ethischen Problemen beschrieb Udo Ebert, emeritierter Professor für Strafrecht in Jena, ein Dilemma im Zusammenhang der Achtung der Menschenwürde: Wäre der Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs gerechtfertigt, um eine größere Zahl von Menschenleben zu retten? Ist die Androhung von Folter zulässig, um das Leben eines entführten Kindes zu retten? Ebert zeigte in genauer Analyse: Keine staatliche Instanz  hat das Recht, die Würde eines Straftäters zu verletzen. Das Verfassungsgebot der Menschenwürde nehme einen Höchstrang ein; die moralische Integrität des Staates dürfe nicht verletzt werden. Diskutiert wurde, ob ein für solche Entscheidungen Verantwortlicher sich in seinem Gewissen veranlasst sehen könnte, gegen die Rechtsnorm zu handeln.

Sehr konkret wurde die Frage der Verletzung der Menschenwürde in dem Vortrag von  Frank Martin Brunn, Theologe und Ethiker in Heidelberg, erörtert an Beispielen aus dem Sport. Nicht selten werde die Achtung der Menschenwürde gefährdet, so bei groben Regelverletzungen während des sportlichen Spiels oder bei gesundheitsgefährdendem Doping. Zwar sei die Menschenwürde nicht verlierbar, wohl aber komme es vor, dass sie verkannt oder ignoriert wird.

In der von Vicco von Bülow (Hannover) geleiteten abschließenden Podiumsdiskussion wurde betont, dass es auf die konkrete Füllung des Gedankens der Menschenwürde ankomme und dass das Verhältnis von Menschenwürde und konkreten Menschenrechten genau bestimmt werden müsse.

Die Evangelische Forschungsakademie ist eine Einrichtung der Union Evangelischer Kirchen (UEK) in der EKD. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler christlichen Glaubens aus unterschiedlichen Fächern beraten hier Fragen, die sich aus dem christlichen Lebensverständnis für das wissenschaftliche Arbeiten, und umgekehrt aus den Arbeitsergebnissen der Wissenschaften für das christliche Lebensverständnis ergeben. Gegenwärtig hat die Evangelische Forschungsakademie 85 Mitglieder aus Deutschland und den Niederlanden.



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