Radikale Veränderung des Denkens

Handeln und Verstehen der biblischen Botschaft im Blick auf die aktuellen Herausforderung der Kirchen

4. November 2016

Chris Ferguson

Es ist mir eine Ehre, in einer Zeit zu der Vollkonferenz der Union Evangelischer Kirchen zu sprechen, in der die protestantischen Kirchen den 500. Jahrestag von Martin Luthers Thesenanschlag dazu nutzen, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen und aufs neue zu überlegen, was es heute bedeutet, eine Kirche der Reformation zu sein. Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen wird diese Frage auf ihrer Generalversammlung aufnehmen, die im Juni und Juli 2017 unter dem Motto „Lebendiger Gott, erneuere und verwandle uns“ in Leipzig tagen wird.

Für die reformierte Tradition ist 2017 nicht das entscheidende historische Jahr; Martin Luther ist nicht der entscheidende Theologe, auf den wir uns beziehen; ebenso wenig ist Deutschland unser geografischer Schwerpunkt. Unsere Versammlung in Leipzig gibt uns die Möglichkeit, uns auf unsere eigenen Wurzeln und eigene Geschichte zu besinnen, unsere unverwechselbaren Stimmen einzubringen, in Demut und Buße unseren Beitrag zur Geschichte der Reformation zu bedenken. Ohne Frage muss unsere Tradition, ungeachtet der guten Absichten von damals, die Verantwortung für unseren Teil an den Spaltungen innerhalb der Kirche übernehmen.

Bei dieser kritischen Reflexion geht es darum, unsere Geschichte im Glauben und in der Antwort auf den Gott des Lebens weiterzugehen. Das Reformationsgedenken hat für uns nichts mit theologischer Nostalgie zu tun. Es geht darum, die Reformation in die Gegenwart zu bringen. Das bedeutet nicht nur das Hier und Jetzt; es bedeutet, reformierte Traditionen, Theologie und bekennende Glaubensverpflichtung in die Gegenwart zu übersetzen – in die Spannungen, Konflikte, die Gewalt, das Leiden, die Schönheit, das Wunder und die Verheißung dieses historischen Momentes.

Lebendiger Gott

Am Anfang steht unser Ruf aus den Tiefen unserer Kontexte zu dem Lebendigen Gott. Es ist sowohl ein Gebet als auch ein Bekenntnis. Unsere Glaubenstradition fordert uns auf, uns an den Gott des Lebens zu wenden. Wir suchen Gott und beten zu ihm, wenn wir mit der Gebrochenheit und den Bedrohungen des Lebens konfrontiert sind. Die biblische Tradition zeigt uns, dass der Lebendige Gott angerufen wird, wenn sich die Gemeinschaft falschen Göttern gegenübersieht (Jeremia 10,1-10): den Götzen des Krieges, des Todes und der Herrschaft; den Götzen des Wohlstands und des „Mammons“. Mit unserem Bekenntnis zum Lebendigen Gott verurteilen wir diese Systeme, Strukturen, Werte und Lehren, die rassistische, ökonomische, ökologische, soziale, religiöse und Geschlechterungerechtigkeit fördern.

Erneuere und verwandle

Im nächsten Schritt fordert uns unser Thema zur Bereitschaft auf, die Reformation in der Gegenwart zu erfahren: –„erneuere und verwandle.“ Hier mahnt uns Römer 12,1-2: „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes …“ Für die WGRK ist es unerlässlich, dies nicht als einzelne Personen, sondern als Kirche und als eine Gemeinschaft anzugehen. Wir sind dazu aufgerufen, die Erneuerung der Kirche zu bejahen und zu suchen, damit die Welt verwandelt werden kann. Verwandlung basiert hier auf dem griechischen Wort metamorphosis – das bedeutet eine totale und radikale Veränderung des Denkens, Handelns und Verstehens, eine Verwandlung von Gestalt und Wesen. Das biblische Konzept ist radikaler als jedes politische oder psychologische Konzept einer reinen Reform.

Weltweit wird von Transformation gesprochen, doch häufig geht es dabei um eine oberflächliche Verwandlung. Die Vereinten Nationen haben Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Entwicklung festgelegt, die die Welt transformieren sollen, ohne die wirtschaftlichen oder politischen Systeme oder Strukturen zu verändern. Die Stelle im Römerbrief ruft uns zu einer tiefergehenden Umgestaltung aller Strukturen, Systeme, Einstellungen und Handlungen auf, die unterdrücken oder versklaven. Viele in der Zivilgesellschaft schließen sich dem Aufruf an, der vom Bekenntnis von Accra und von Papst Franziskus‘ Laudato Si formuliert wird, nämlich zu erkennen, auf welche Weise die gegenwärtige neoliberale Marktwirtschaft mit ihren Strukturen und Institutionen sowie der Klimawandel und die Umweltzerstörung zusammenhängen.

Unser Kontext und unser Glaube zwingen uns dazu, nach Gerechtigkeit zu streben und dem Bösen zu widerstehen. Die WGRK wird sich auf ihrer Generalversammlung vom Bekenntnis von Accra leiten lassen und das Bekenntnis in die Gegenwart bringen – durch ihre Bemühungen, treu allem zu widerstehen, was das Leben in Gottes Schöpfung bedroht, und Jesus zu folgen in der Mission der guten Nachricht für die Armen, der Befreiung, der Freiheit, der Heilung und der Gerechtigkeit für die Erde.

uns

Hier schließt unser Thema die Person, die Kirche und die Welt ein – die ganze Schöpfung. Der Ruf, den Gott des Lebens in den Mittelpunkt all dessen zu stellen, was wir sind und was wir tun, wird die WGRK verändern. Er wird unsere Kirchen verändern. Er wird unsere Gesellschaft verändern. Er wird die Beziehungen zwischen Männern und Frauen verändern. Er wird alle Unterschiede achten. Das „uns“ schließt die Erde, die gesamte Schöpfung, ein.

Einheit und die Überwindung von Spaltungen zwischen Menschen und Kirchen sind eine unverrückbare Berufung für uns. Wir als WGRK-Familie entschuldigen uns natürlich nicht für die Reformation und ihren weltverändernden Beitrag für die Menschheit, aber wir bereuen die Entzweiung, Trennung und Gewalt, die unbeabsichtigte, aber reale Folgen waren. Calvin beklagte den „verstümmelten Leib Christi“. Er erklärte, die Einheit liege ihm so sehr am Herzen, dass er für diese Sache zehn Meere durchqueren würde. Im Streben nach Erneuerung als eine reformierte Kirche, die sich immer neu reformiert, muss die WGRK tatsächlich eine neue Einstellung zur sichtbaren Einheit der Kirche gewinnen und diese Einheit für sich als Imperativ der dringlichsten Art begreifen. Nicht nur die Koinonia innerhalb der WGRK-Familie, nicht nur die Gemeinschaft mit anderen Gemeinschaften, sondern die wahre und tiefste Einheit um das Reiches Gottes willen.

Um die Herausforderungen aufzunehmen, wird die Generalversammlung am 5. Juli 2017 Wittenberg besuchen und verschiedene ökumenische Aktivitäten durchführen:

  1. Der Besuch des Ortes Wittenberg soll betonen, dass die Unterschiede zwischen lutherischen und reformierten Kirchen durch die ökumenischen Bemühungen der letzten Jahrzehnte ihre kirchentrennende Bedeutung verloren haben. Volle Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern und reformierten ist aus reformierter Sicht eine Realität, die im geistlichen und gottesdienstlichen Leben der Kirchen, im Zeugnis in der Welt und im Dienst in der Welt zu verwirklichen ist.
  2. Diese ökumenischen Bemühungen bilden die Grundlage einer gemeinsamen Erklärung, die der Lutherische Weltbund und die WGRK während des Besuches in Wittenberg gemeinsam verabschieden wollen. Ziel dieses Dokuments ist die Bestätigung des theologischen Consensus und die öffentliche Verpflichtung, die Gemeinschaft zwischen lutherischen und reformierten Kirchen auf dieser Grundlage gemeinsam weiterzuentwickeln.
  3. Der Bezug auf die Reformation isoliert die protestantischen Kirchen nicht von anderen christlichen Traditionen, sondern erweist sich als lebendige Anregungen im ökumenischen Dialog. Während des Wittenbergtages wird die WGRK der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre beitreten. In ihrer Assoziierungserklärung greift die WGRK auf die in der Gemeinsamen Erklärung angewandten Methode des „differenzierenden Konsensus“ zurück, um wichtige Elemente des reformierten Rechtfertigungsverständnisses in die ökumenische Diskussion einzubringen. Ein ganzes Kapitel beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Rechtfertigung und Gerechtigkeit.

Die Zeremonie soll von den Präsidenten des Päpstlichen Einheitsrats, des Lutherischen Weltbundes und der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen geleitet werden. Die WGRK begrüßt, dass immer mehr christliche Gemeinschaften die Stimme ihrer jeweiligen Tradition in diesen differenzierenden Konsensus einbringen, und hat deshalb den World Methodist Council nach Wittenberg eingeladen, der sich bereits 2006 der Gemeinsamen Erklärung angeschlossen hat.

Soli Deo Gloria! Ehre sei dem Gott des Lebens!



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